Spuren der Zuneigung

Wenn die Liebe zum Fahrgast wird

Zuweilen verwandeln sich unsere Fahrzeuge zum Austragungsort mehr oder minder naheliegender zwischenmenschlicher Beziehungen. Ich spreche hier nicht von den an andere Fahrgäste gerichteten Monologen oftmals benebelter Randständiger, den Geschäftsbeziehungen der Bankiers vom Paradeplatz oder den meistens recht sinnentleerten Anrufen im Stile von «Schatz, ich bin in zwei Minuten zu Hause, dann ist endlich Wochenende!», sondern von jenem eigenartigen Ding namens «Liebe». Meistens wird sie eher unauffällig und rücksichtsvoll gezeigt, zum Beispiel von alten Ehepaaren, die sich während der Fahrt zärtlich die Hände halten oder sich beim Betreten und Aussteigen gegenseitig helfen und sich dafür mit einem Kuss bedanken. Ich freue mich immer sehr über diese kleinen, leisen und sehr respektvollen Gesten, die ich bei jüngeren Menschen eher selten beobachten darf. Für mich ist «Liebe» etwas, was eher selten demonstrativ auftritt. Aber jedem Tierchen sein Plaisierchen, nicht wahr?

Manchmal hoffe ich inständig, der von jüngeren Paaren anvisierte Schauplatz des zweiten Aktes der unübersehbar zur Schau gestellten Liebe (welche wahrscheinlich in jenen Momenten besser mit dem Begriff «Begierde» zu beschreiben wäre), das «chambre à coucher», möge in zweckdienlicher Entfernung zur Haltestelle liegen, an der jenes Paar mein Tram verlässt. «Erregung öffentlichen Ärgernisses» ist auch in Zürich nicht unbedingt auf die leichte Schulter zu nehmen, aber im Vergleich zu meiner Heimatstadt Berlin geht es in Bezug auf die Liebesbegierde in der Limmatstadt geradezu puritanisch zu. Zumindest im öffentlichen Raum. Meistens. An Wochenenden eher weniger, und auch das ist von Linie zu Linie verschieden.

Für mich ist «Liebe» etwas, was eher selten demonstrativ auftritt.

Ich habe viel Verständnis für die Begleiterscheinungen jener besonderen Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Manchmal ist eine offensichtlich frisch entstandene Liebe so intensiv und schön, dass man alles um sich herum vergisst. Alles. Also auch uns, die VBZ. Aber so schön dieses Entflammen der Sinnes- und Wahrnehmungsverschiebung auch sein mag – sachdienlich ist sie nicht immer, insbesondere für uns Trampilotinnen und Trampiloten: Manche Paare verabschieden sich innig küssend nämlich nicht auf dem Perron, sondern in der Lichtschranke unserer Fahrzeugtüren – was den ganzen Fahrplan durcheinander bringt! In solchen Fällen nehme ich dann schon mal hin und wieder das Mikrofon in die Hand und fordere zu einer „zügigeren Teilzeit-Entzweiung“ auf. Schliesslich sind meine anderen Fahrgäste unfreiwillig Statisten in jenem Schauspiel und haben oft ganz andere Dinge im Sinn, als einen Anschluss oder etwas anderes zu verpassen.

Sichtbare Beweise der Liebe

Eine solche Szene ereignete sich jüngst auf der Linie 3, als ich ungewohnt lange in der Haltestelle «Bezirksgebäude» verweilen musste. Zu vorgerückter Stunde sah ich im Spiegel lediglich eine Frau im hinteren Bereich meines Trams, die vom Perron aus irgendetwas zu einem Fahrgast im Wageninneren sagte und dabei einige recht deutliche Liebesbekundungen in Form von Gesten und Körperbewegungen einstreute. Nichts Unsittliches oder gar Ordinäres, aber eindeutig. Ich war kurz davor, das Mikrofon in die Hand zu nehmen und meinen Standardspruch über den Aussenlautsprecher abzugeben, als die Frau vom Tram wegtrat und sich die Tür endlich schloss. Mit einer deutlichen, aber gerade noch verschmerzbaren Verspätung setzte ich meine Fahrt in Richtung Klusplatz fort.

Ich holte die Verspätung bis zum Klusplatz wieder auf und hatte so genügend Zeit, dort eine gemütliche Zigarettenpause einzulegen. Ich liess meinen Blick über das Tram schweifen und entdeckte dabei neben einer Tür drei auffällige Punkte.

Ich trat näher heran und begutachtete tatsächlich drei «Knutschflecken», die, wie ich nach kurzer Probe feststellte, von einem echten Lippenstift stammten. Irgend so ein dunkler Farbton mit Goldflitter darin, in nahezu waagerechter Linie unter das Fenster neben der Tür geküsst, an der die zuvor erwähnte Frau beim «Bezirksgebäude» meine Fahrt gebremst hatte. «Mensch, die muss ja vaknallt sint!», dachte ich still bei mir. «Jut, det unsere Trams wenichstens hin und wieda jewaschn wern!». Ich liess die Knutschflecken dort, wo die Frau sie angebracht hatte, und rauchte grinsend meine Zigarette zu Ende.

Auch für mich spielen die Trams von Zürich in Bezug auf die Liebe eine grosse Rolle, vor allem eine ganz bestimmte Haltestelle auf der Linie 7. Aber ich möchte kein öffentliches Ärgernis erregen, also bleibt das meins. Auch abknutschen werde ich kein Tram, egal, wie sehr ich meinen Beruf auch wegen jener kleinen, leisen Momente der Liebe mag!

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