Zu Fuss, per Velo und im ÖV: Wir haben mit der Direktorin des Tiefbauamts, Frau Dr. Simone Rangosch, über die drei Säulen des städtischen Verkehrs und andere wichtige Faktoren für das Zukunftsbild ÖV 2050 gesprochen.
Im Zukunftsbild ÖV 2050 ist das Kürzel «ÖV» bereits enthalten. Doch natürlich tummeln sich auf der Strasse verschiedenste Verkehrsmittel, der Raum ist auch nicht unbegrenzt. Ein so wichtiges Vorhaben wie die Gestaltung der zukünftigen Zürcher Mobilität braucht daher selbstredend eine möglichst breite Unterstützung, um zum Ziel zu führen.
Der Zürcher ÖV kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Zusammenspiel mit alternativen Formen der Mobilität. Nebst anderen wichtigen Partnern war deshalb bei der Erarbeitung des Zukunftsbilds ÖV 2050 auch das Tiefbauamt im Projekt mit an Bord. Wie sich Dr. Simone Rangosch, Direktorin des Zürcher Tiefbaumts, dieses verkehrstechnische Zusammenspiel vorstellt und was für die Stadt und deren Mobilität in der Zukunft besonders wichtig sein wird, erzählte sie uns im Interview.
Gesamtheitlich betrachtet, welche Herausforderungen kommen in den nächsten 20 Jahren auf die städtische Mobilität zu?
Die Stadt wächst, es entstehen auch mehr Arbeitsplätze: Somit sind mehr Arbeitnehmende, Einwohnerinnen und Einwohner unterwegs und teilen sich den Raum. Die Mobilität steigt also und mit ihr die Ansprüche und Bedürfnisse. Damit müssen wir umgehen können. Weitere Aspekte betreffen die Veränderungen in der Gesellschaft und den Klimawandel.
Welche gesellschaftlichen Veränderungen meinen Sie konkret?
Den demographischen Wandel mit einer steigenden Anzahl älterer, insbesondere hochbetagter Menschen. Zwar reden wir schon lange davon, wirklich sichtbar wird diese Entwicklung aber erst in den kommenden 15 bis 20 Jahren: Immer mehr Rentnerinnen und Rentner stehen den Erwerbstätigen gegenüber.
Was bedeutet das für den ÖV?
Aktuell reden wir beispielsweise über das Behindertengleichstellungsgesetz und die damit verbundenen Massnahmen, welche die Barrierefreiheit sicherstellen sollen. Barrierefreiheit dient aber nicht nur Menschen mit einer Behinderung: Personen mit Gehstock, Rollator, aber auch mit Kinderwagen und anderen rollenden Vehikeln profitieren davon.
Kommen wir zum nächsten Faktor, dem Klimawandel.
Ein hochaktuelles Thema, vor dem seit dreissig Jahren gewarnt wird! Ich glaube, jetzt merken wir sehr deutlich, dass wir mit Extremereignissen wie Stürmen oder Bränden, die sich überall auf der Welt häufen, direkt betroffen sind. Das müssen wir ernst nehmen. Auch der Verkehr trägt mit seinen Emissionen wesentlich dazu bei – von dieser CO2-Belastung müssen wir deutlich und schnell wegkommen.
Welche Rolle kann oder muss der ÖV hierbei übernehmen und wie können nachhaltige Verkehrsmittel besser miteinander verknüpft werden?
Wenn wir die drei Standbeine der städtischen Mobilität, also den Fuss-, Velo- und öffentlichen Verkehr als Mix fördern und ausbauen, verfügen wir über ein sehr gutes Mobilitätsangebot für die Bevölkerung, das uns mit Blick auf das Klima erlaubt, so schonend wie möglich unterwegs zu sein. Der ÖV spielt als flächeneffizientes Verkehrsmittel hierbei eine grosse Rolle. Die VBZ bewegen sich punkto Elektrifizierung, namentlich Trolley- und E-Bussen ja schon lange auf einem guten Weg Richtung Ziel «Netto Null». Ein weiteres Thema ist meiner Meinung nach, dass wir wegkommen müssen von der Wachstumsphilosophie im Sinne von «noch schneller, noch weiter, noch besser erreichbar.»
Eine gute Erreichbarkeit ist in der Mobilität doch ein wichtiger Faktor?
Auf jeden Fall: Wir haben viel Geld in den Ausbau der ÖV-Infrastruktur für eine bessere Erreichbarkeit investiert, ebenso in Strassen, Fuss- und Velowege. All diese Verkehrsinfrastrukturen gilt es zu unterhalten und neue Anlagen gut in den Stadtraum zu integrieren. Dieser Raum ist ja nicht nur Verkehrsraum, sondern Lebensraum, Ort für Aufenthalt, Begegnungen oder Erholung. Irgendwann kommen wir an einen Punkt, an dem wir uns fragen müssen, was die optimale Erreichbarkeit ist und welchen Mehrwert weitere Investitionen bringen.
Sie sagen, der ÖV ist eines der drei wichtigen Standbeine der städtischen Mobilität, zusammen mit dem Fuss- und Veloverkehr. Wie sieht dieses Zusammenspiel aus?
Der ÖV dient klassisch als Massen-Verkehrsmittel für mittlere und grössere Distanzen und wird aufgrund seiner Flächeneffizienz weiter an Bedeutung gewinnen. Er verliert dann an Stärken, wenn er zum Taxi wird. Auf kurzen und mittleren Distanzen wird der ÖV teilweise durch zu Fuss zurückgelegte Wege und Velofahrten entlastet werden müssen. Schlussendlich kann auch der ÖV nicht unbegrenzt wachsen, sonst haben wir am Ende Tram an Tram.
Wie kann diese Entlastung aussehen?
Das Umsteigen, auch auf die verschiedenen Verkehrsmittel, muss leichtgemacht werden. Es wäre nicht zielführend, die drei Standbeine gegeneinander auszuspielen, im Gegenteil, ein gutes Zusammenspiel ist wichtig. Was dabei ebenfalls eine Rolle spielen wird, ist die Sharing-Economy, insbesondere auf der letzten Meile, wo etwa Leihvelos und E-Trottinetts eingesetzt werden könnten. Die Frage bei dieser Multimodalität ist jene, wie wir eine gute Verknüpfung schaffen.
Sie sprechen die sogenannten Mobilitätshubs an?
Ja, wobei festzuhalten ist, dass es nicht nur um die physische Verknüpfung geht, sondern auch darum, Informationen in Echtzeit zu erhalten, wie man mit welchem Verkehrsmittel am besten weiterkommt. Dazu gehört auch die Frage des Ticketings: Wenn man diesbezüglich mehr Durchgängigkeit erreichen könnte, wäre das sicher von Vorteil. Das Thema «Mobility as a Service» wird in Zukunft auf jeden Fall weiter an Wichtigkeit gewinnen und noch mehr Leute zum Umsteigen bewegen.
Apropos Umsteigen: Die Planungen orientieren sich unter anderem an der städtischen Mobilitätsstrategie Stadtverkehr 2025. Diese sieht vor, den Anteil an motorisiertem Individualverkehr zu reduzieren. Wo steht die Stadt diesbezüglich?
Hätten Sie mir diese Frage vor der «Corona-Zeit» gestellt, hätte ich geantwortet: «Wir sind prima auf Kurs». Noch im Jahr 2000 hatten wir einen MIV*-Anteil von 40 Prozent, bis 2015 waren es 25 Prozent. Sie sehen, alle fünf Jahre sank der Anteil um 5 Prozent, weswegen wir sehr zuversichtlich waren, das Ziel von 20 Prozent zu erreichen. Mit der Pandemie mussten wir leider die Erfahrung machen, dass viele Leute den ÖV gemieden haben. Manche haben das Velo hervorgeholt – soweit so gut –, viele haben sich aber leider auch ins Auto gesetzt. Die nächste Erhebung dürfte deshalb zeigen, dass der Anteil an Autoverkehr gegenüber den Vorjahren wieder gestiegen ist.
Bleibt zu hoffen, dass es sich hierbei um ein vorübergehendes Phänomen handelt…
Ich denke, so wie sich im ÖV die Fahrgastfrequenzen erholen werden, wird sich wohl auch der Modalsplit wieder in die richtige Richtung bewegen – wenn auch mit ein paar Jahren Verzögerung. Wir müssen unser Licht aber auch ohne dies nicht unter den Scheffel stellen: Man zieht ja gerne Städte wie Amsterdam und Kopenhagen zu einem Vergleich heran. Diese haben aber deutlich höhere Anteile an Autoverkehr als Zürich (in Kopenhagen lag der Anteil bei den letzten Erhebungen im 2015 bei 33 Prozent und in Amsterdam im Vergleichsjahr bei 32 Prozent, Anm. d. Redaktion). Wir stehen dank unserem umweltfreundlichen Trio von ÖV, Fussverkehr und Velo auch international sehr gut da: Der MIV macht nur rund 25% aus.
Mit der wachsenden Stadt steigt auch die Nachfrage nach Mobilität. Wird Zürich diesen guten Wert halten können?
Die steigende Nachfrage müssen wir unbedingt umweltverträglich und auch flächen- sowie energieeffizient bewältigen, und da steht wieder der mehrfach erwähnte Mix aus ÖV, Fuss- un Veloverkehr im Zentrum. Wir müssen uns bewusst sein, dass es eine Reduktion des motorisierten Individualverkehrs braucht. Auch, um diese Stadt lebenswerter zu gestalten und Freiraum für andere Bedürfnisse zu schaffen. Beispielsweise das Bedürfnis nach Grünflächen, Bäumen und Schattenplätzen, die eine wichtige Rolle in der Stadt spielen.
Welche Rolle meinen Sie damit genau?
Das Stichwort heisst «Hitzeminderung». Die Bäume der Stadt werden schon länger thematisiert, im Angesicht des Klimawandels vermehrt. Sie sorgen für ein kühleres Klima, dienen als Schattenspender und werden von den Menschen sehr geschätzt. Aber natürlich kann man sie nicht einfach überall hinpflanzen, auch Bäume brauchen Platz. Hier sehen wir einerseits Handlungsbedarf, gleichzeitig stehen wir vor der Frage, wie wir das im begrenzten Stadtraum optimal unterbringen.
Nebst allem anderen auch noch Bäume… Das sind ziemlich viele Faktoren im Strassenraum, die auf den Verkehr einwirken.
Die Kernfrage ist, wie wir es schaffen, dass gewisse Fahrten gar nicht mehr nötig werden und die eingefleischten Autofahrer und Autofahrerinnen ihr Fahrzeug nur noch dort einsetzen, wo es auch wirklich das beste Verkehrsmittel ist. Die Stadt arbeitet seit längerem am Thema «Verkehrsvermeidung», auch mit dem kommunalen Richtplan. Dieser setzt nicht auf ein, sondern auf mehrere Stadtzentren. Die Polyzentrik im Sinne einer «Stadt der kurzen Wege» lässt mich als Bürgerin die Ziele zur Erledigung meines täglichen Bedarfs innerhalb von zehn Minuten erreichen. So bin ich nicht gezwungen, lange Distanzen zurückzulegen und viel Aufwand zu betreiben, um meine Grundbedürfnisse abzudecken. Eine polyzentrische Stadt muss aber bei der Stadtplanung bereits vorgesehen werden. Zum anderen denke ich, müssten wir von der Tarifierung her eher Richtung «Pay as you use» gehen, damit man nicht noch Fahrten unternimmt, auf die man, wenn es mehr kostet, eher verzichten würde.
Wie lassen sich Ansprüche eines attraktiven ÖV mit den Ansprüchen an einen lebenswerten Stadtraum also verknüpfen?
Wichtig ist, dass man die Gestaltung des öffentlichen Raums zusammenhängend denkt und nicht etwa als Architektur und Städtebau einerseits und – davon getrennt – Verkehrsanforderungen andererseits. Wir müssen aus einem integralen Blickwinkel heraus tragende Lösungen finden, und ein Verkehrssystem, das ineinander greift. Als Beispiel die Bahnhofstrasse: Hier gibt es sehr viel ÖV, aber auch ebenso viele Fussgänger und Fussgängerinnen, die in alle Richtungen unterwegs sind, auf breiten Gehflächen mit Bäumen. Das lädt zum Flanieren ein und ist sehr attraktiv.
Gibt es einen Trend, in welche Richtung sich diese integrale Planung entwickelt?
Jeder Strassenraum ist einzeln zu betrachten, es gibt nicht einfach die Lösung. Mitunter kann ein Ansatz so aussehen, dass Velo und ÖV voneinander zu trennen sind. Anderswo können vielleicht dank eines intelligenten Verkehrsmanagements ÖV und Auto koexistieren, ohne dass der Bus im Stau steht. Ebenso kann es ein Ansatz sein, dass die verschiedenen Verkehrsmittel auf einem niedrigen und angeglichenen Geschwindigkeitsniveau unterwegs sind. Je mehr die Geschwindigkeit nämlich auseinanderklafft, desto mehr Konflikte können entstehen. Die planerische Herausforderung besteht darin, aus der Gesamtbetrachtung aller Bedürfnisse im Strassenraum eine gute Lösung zu finden. Es gibt hier kein Patentrezept.
Könnte die Lösung – wie oft gefordert – nicht einfach darin bestehen, den ÖV unterirdisch zu führen?
Zu einem attraktiven, belebten Raum gehören aus meiner Sicht sowohl der Fuss- und Veloverkehr als auch der ÖV unbedingt an die Oberfläche. Man weiss aus Beobachtungen, dass an gut mit dem ÖV erschlossenen Lagen auch das Gewerbe mehr Umsatz macht. Das heisst, der Mix aus ÖV, Fuss- und Veloverkehr generiert einen Raum, der auch wirtschaftlich interessant ist. Umgekehrt dort, wo viel Autoverkehr braust, floriert es meistens nicht so. Zum anderen ist ein attraktiver Zugang zum ÖV sehr wichtig, also die Erreichbarkeit der Haltestelle und ob man sich dort wohl fühlt. Die subjektive Sicherheit beispielsweise wird bei unterirdischen Lösungen als tiefer wahrgenommen.
Frei nach einem Slogan der VBZ, der da lautet: «Wo wir fahren lebt Zürich»…
Der ÖV hat oft die Funktion eines Stadtentwicklungsprojekts, was ja ebenfalls ein Thema bei den Stadtbahnen wie der Limmattalbahn oder dem Tram Affoltern war. Das finde ich sehr spannend, weil man einen Stadtteil oder eine Achse so von Grund auf neu denkt, nicht nur das neue Tram oder den neuen Bus plant, sondern auch, wie der Raum entlang der Strecke städtebaulich zu gestalten ist. Als gutes Beispiel dient übrigens das Tram Zürich-West: Nach dessen Einführung sind zahlreiche Angebote im privaten und schulischen Bereich entstanden und haben Leben ins Quartier gebracht.
Dennoch sind unterirdische Streckenführungen punktuell ein Thema.
Unterirdische Streckenführungen können punktuell durchaus sinnvoll sein, sind aber als Gesamtes nicht die Lösung der Zukunft. Die Investitions- und Unterhaltskosten fallen bei unterirdischen Lösungen sehr viel höher aus. Ein Faktor sind auch die Rampen am Anfang und am Ende eines Tunnels. Diese sind städtebaulich sehr schwierig zu integrieren. Für eine U-Bahn als System ist Zürich dann doch wieder zu klein. Im Grunde ist ja unsere S-Bahn teilweise auch eine U-Bahn mit sehr schnellen, unterirdischen Verbindungen, jedoch sehr ansprechenden Oberflächen-Bahnhöfen, siehe Beispiel Stadelhofen.
Zum Schluss: Ist das Zukunftsbild ÖV 2050 aus Ihrer Sicht mutig genug?
Der Prozess mit vier Teams, die je auf einen Schwerpunkt setzten, war sehr gut. Eines der Teams hatte sich explizit mit dem Schwerpunkt «Digitalisierung» befasst, das fand ich richtig und wichtig. Es hat aber auch gezeigt, dass es mit der Digitalisierung alleine nicht getan ist. Die Frage muss stattdessen lauten «Was will ich?» und dann kann man sich überlegen, ob die Digitalisierung dabei hilft und wenn ja, wie. Insofern wurde im Prozess Zukunftsbild der Fächer aufgemacht und die Möglichkeiten ausgelotet. Dann hat man den verschiedenen Entwürfen die einzelnen Puzzlesteine entnommen und zusammengefügt. Das war ein gutes Vorgehen. Das Zukunftsbild hat klar herausgearbeitet, in welchem Fächer wir Lösungen denken können und welches Zukunftsbild erreichbar ist.
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