Von Zentrum zu Zentrum

Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Dieses Mal: Die Tramlinie 15.

Ein wunderschöner Sonnentag, mich aber beschäftigt die Frage: «Wie» ist sie, die Tramlinie 15?

Wie die meisten ÖV-Nutzer schaue ich beim Bus- oder Tramfahren normalerweise auf mein Smartphone. Aber heute geht das nicht. Ich soll nämlich ein Linienpsychogramm schreiben. Eben, über die Linie 15. Darum wird heute aus dem Fenster geschaut.

Beim Streckenbeginn wird zuerst einmal das Stationsschild fotografiert. Die Linie 15 beginnt am Stadelhofen, einem der meist genutzten Bahnhöfe der Schweiz. Der historische Springbrunnen sprudelt dort schon seit 1870. Punks und Andere nutzen den Platz gerne zum Verweilen. Allerdings wurde er pandemiebedingt unterdessen von der Jugend zur Freiluftdisco umfunktioniert. Ohnehin wimmelt es in diesem Gebiet von kulturellen Einrichtungen (namentlich Kinos, die Oper, Clubs, und so weiter).

Der 15er kommt, los geht’s!

Der 15er kommt, ich steige ein. Es geht los. Vorbei an einem der interessantesten Gebäude der Stadt, dem Corso. Zuerst Varieté, später dann Kino. Darüber das Mascotte, früher als Roxy bekannt. Ich erinnere mich noch gut an die durchtanzten Nächte. Nach dem Sechseläutenplatz, wo heuer wieder kein Böögg explodiert ist und daher beim Rosaly’s auch wieder nicht gefeiert werden konnte, fährt das Tram vorbei an der Kronenhalle und dem Odeon. Dann am Hechtplatz. Als Kind waren meine Eltern mit mir dort im Theater, Räuber Hotzenplotz. Was habe ich mich gefürchtet! Glücklicherweise kann gesagt werden, dass sich dieser «gfürchige» Räuber nicht negativ auf meine Entwicklung ausgewirkt hat. Horrorfilme alleine schauen klappt toll. Ob das jetzt des Räuber Hotzenplotzes Verdienst ist, kann ich aber leider nicht mehr sagen.

So in Gedanken versunken fahre ich an der Wasserkirche vorbei. Der Legende nach sollen hier die Zürcher Stadtheiligen, Felix und Regula, auf Geheiss des römischen Kommandanten Decius enthauptet worden sein. Geschichte kann man beim Tramfahren also auch lernen. Ob dieses unandächtige Benehmen des Römers an dessen polytheistischem Weltbild lag, wäre sicher spannend zu diskutieren. Lieber wende ich mich aber nach rechts hin, zum Treppenaufgang in Richtung Grossmünster. Früher hatte sich dort der Künstler Harald Nägeli verewigt und auch heute fällt mir ein Graffito auf. Aber ob das noch ein Nägeli ist, weiss ich nicht. Würde ich hier aussteigen, denke ich mir, könnte ich ein bisschen kreuz und quer durch das Niederdorf flanieren. Rechts am Grossmünster vorbei, kurz Karl den Grossen grüssen, zum Zwingliplatz und dort links geradeaus. Eintauchen in die Altstadt, vorbei an Restaurants und Bars und Läden. Wenn ich dann beim Hirschenplatz rechts abbiegen würde, käme ich zum Zähringerplatz und damit zur Zentralbibliothek, wo ich früher meinen Kopf mit Wissen füllen musste. Und würde ich dann links abbiegen, käme ich zur Rudolf-Brun-Brücke, wo ich wieder in den 15er einsteigen würde. Das alles könnte ich tun. Und dann erinnere ich mich, dass es beim Grossmünster zum Zwingliplatz ziemlich steil hinaufgeht und lasse es.

Das ist aber nicht schlimm, jetzt kommt nämlich Zürichs Freilichtmuseum, mein Liebling unter den Stadtteilen. Rechts passiert man die alten Zunfthäuser Zimmerleuten, Rüden und Haue, dann links das Ratshaus, bevor man die alte Stadtmauer, den Lindenhof und die Schipfe sieht. Im Sommer kann man auf der anderen Flussseite super spazieren.

Der 15er ist somit auch ein bisschen Bildungslinie. Nur schon deswegen, weil die Strecke mit der Linie 4 geteilt wird. Weiter geht es zum Central. Zur Hauptverkehrszeit kommen hier Trams, Autos, Fussgänger und Velos von allen Seiten. Wie StadtpolizistInnen, die manchmal den Verkehr regeln müssen, den Überblick behalten, ist mir ein Rätsel. Genau heute regelt aber niemand den Verkehr, weshalb die Lösung des Rätsels im Dunkeln bleibt. Ich könnte bei der nächsten Gelegenheit aber fragen. Wobei, wie sieht das denn aus, wenn ein Polizist oder eine Polizistin den Verkehr regelt und plötzlich, mittendrin, jemand vorne hinsteht und fragt: «Wie machen Sie das?»

Hinauf zur Weinbergstrasse, vorbei am Kino Capitol. Da habe ich in meiner Jugend mal gearbeitet. Ein toller Job, gratis Popcorn und immer mittwochs um Mitternacht die neuen Filme schauen. Macht schon Spass, so ein Kino für sich alleine zu haben.  Die Sitze können frei gewählt werden, die Füsse auf die vordere Rückenlehne platziert (das haben Sie nicht von mir). Kurz überlege ich mir, dass das Tram Nummer 15 auch eine Kinolinie ist. Die Arthouse-Kinos am Stadelhofen, dann das Corso, weitere Arthouse-Kinos im Niederdorf, jetzt das Capitol.

Es stellt sich automatisch die Frage, bei welchen anderen Einrichtungen es toll wäre, sie für sich alleine zu haben? Die ganze Stadt? Nein, das wäre eher apokalyptisch. Ein Restaurant oder eine Bar? Besser, aber nur, wenn ich trotzdem bedient werde. Ein Club? Alleine tanzen geht nur beim wöchentlichen Wohnungsputz. Ein Zug, Tram oder Bus? Der Traum, sich hinsetzen können, wo man will. Gibt es leider viel zu selten.

Weit ist es jetzt nicht mehr, bis mit dem Bucheggplatz die Endstation erreicht ist. Vorher aber noch ein kleiner Besuch in meiner alten «Hood», dem Schaffhauserplatz. Sechseinhalb Jahre habe ich in der Nähe gewohnt, mir ist fast ein wenig wehmütig zumute. Wieder zu Hause merke ich, dass ich anstatt in Wehmut besser in die Bildung investiert hätte. Ich bin nämlich jahrelang davon ausgegangen, dass der Schaffhauserplatz zu Wipkingen gehört. Tut er aber nicht, er gehört zu Unterstrass. Deshalb habe ich so wenig Hipster gesehen. Jänu.

Zum Schluss die Endstation am Bucheggplatz. Seit ich nicht mehr in Zürich wohne, bin ich da doch eher selten durchgekommen. Diesen Platz mag ich irgendwie, die kreuzförmige Fussgängerspinne über dem Grosskreisel, auf dem sogar noch ein Wohnhaus steht. Links runter, die Rosengartenstrasse entlang, käme irgendwann der Escher-Wyss-Platz. Wieder mit Kino. Links geradeaus via Tiechèstrasse käme irgendwann die ETH Hönggerberg. Vorher aber noch der Käferberg, dort kann man super joggen und die armen Stadtlungen mit gesunder Waldluft füllen. Geradeaus geht’s nach Affoltern, rechts nach Oerlikon und ebenfalls rechts gelangt man nach Schwamendingen. Der Bucheggplatz ist eigentlich wie ein zweites Stadtzentrum mit direktem Fussgängeranschluss an ein Naherholungsgebiet. An Coolness kaum zu überbieten, wie ich finde.

Aber halt! Hätte ich nicht eigentlich über die Linie 15 schreiben sollen? So viele Erinnerungen hat sie in mir geweckt! Es kann nur daran liegen, dass sie sich auf einer der geschichtsträchtigsten Strecken bewegt, dort, wo ein Höhepunkt den nächsten ablöst. Ja sie führt gar direkt aus dem Stadtzentrum hinaus in einen Verkehrsknotenpunkt, von dem man in alle möglichen weiteren Zentren weiterziehen kann. Ein Zentrum im Zentrum. Kein Wunder, dass auch die Gedanken in alle Richtungen schweifen. Ja, das passt. Die Linie 15, das ist die Zentrumslinie.

 

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