Zürich wird Grossstadt – das Bellevue als Zentrum Europas?

Der Bellevue-Platz verdankt seine Strahlkraft nicht einer besonderen Planung, sondern wurde durch das Zusammentreffen von Limmatquai (ehemals Sonnenquai), Rämistrasse und Quaibrücke um 1900 konsequent zu einem Verkehrsknotenpunkt verdichtet. Wir beleuchten die verkehrliche und städtebauliche Entwicklung.

Autor: Mario Schmid, VBZ Leitstelle
Bilder: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich
Ein Artikel aus dem VBZ-Mitarbeitermagazin Im Takt, Februar 2015

Zürich war bereits vor der Gründerzeit eine attraktive Destination. Mit dem wachsenden Tourismus wurde 1856 – 58 am damaligen Sonnenquai auf neu geschaffenem Raum ein Hotel erstellt. Um dem zunehmend reisenden, vermögenden Bürgertum zu entsprechen, entschloss sich der Besitzer, auch seinem Haus einen noblen Namen zu verpassen. Die vornehmen Weltenbummler schätzten den Komfort und die schöne Aussicht auf See, Stadt und Alpen: Eine belle vue eben. Der für die Stadterweiterung benötigte Platz rund um das Bellevue mit seinen Quaianlagen kam vorwiegend durch Aufschüttungen zustande und befindet sich im Bereich eines ehemaligen Hafens. 1882 – 87 leistete Stadtingenieur Arnold Bürkli mit dem Bau der Quaianlagen und der Quaibrücke eine bedeutende Arbeit für Zürich, auch hier wurde durch Aufschüttungen der nötige Raum gewonnen. 1882 nahm das Rösslitram seinen Betrieb auf, ein weiterer Meilenstein in der Stadtgeschichte. Ob der Platz zwischen Hotel und dem heutigen Sechseläutenplatz jemals «Bellevue» getauft wurde, ist nicht eindeutig überliefert. In den Protokollen des Stadtrats tauchte der Ausdruck «Bellevue-Platz» zum ersten Mal auf, als es um die Konzessionierung der ersten elektrischen
Tramlinie nach Hottingen ging. Die Haltestelle kam denn 1894 auch direkt vor das Hotel Bellevue zu liegen. 1898 ist die Bezeichnung «Bellevueplatz» erstmals auf dem Plan des Adressbuchs der Stadt Zürich zu finden.1

Um 1899 wuchs mit Inbetriebnahme der Quaibrückenlinie und seinen Ausläufern zum Bahnhof Enge und Paradeplatz der Tramverkehr unaufhaltsam. Heute darf man annehmen, dass sich der Begriff «Bellevue» zeitgleich mit der Bildung des Tram-Knotens eingebürgert hatte. Fortan kreuzten sich Rössli- und elektrische Trams, was «dem grössten Gefahrenpunkt der Bahn» den Erlass eines eigenen Reglements bescherte: «…damit die Kreuzungen ruhig und sicher geschehen würden».2 Bereits um 1900 wurde der Koexistenz von Rösslitram und elektrischem Tram ein Ende bereitet: Das Rösslitram wurde umgespurt und elektrifiziert.

Das Hotel Bellevue, die Quaibrückenlinie ist bereits in Betrieb. Um 1905. Rechts ist ein Teil der ersten Wartehalle zu sehen, erbaut 1903.

Rascher Wandel: Tram und Automobil

In der gleichen Epoche verbreitete sich mit der Industrialisierung auch in Zürich eine Angst, dass der schnelle Wandel unbeherrschbar werde. Einhergehend mit sozialen Veränderungen und dem Verlust des gewohnten Lebensumfelds wurden die Verhältnisse in den Städten als chaotisch oder gar bedrohlich erlebt. Auch wenn man stolz auf die technischen Errungenschaften und das Wachstum sein konnte, so fehlte an verschiedenen Stellen eine gesamtheitliche Planung des Stadtraums, um der ausufernden Grossstadt Gestalt zu geben. Mit dem Wettbewerb «Gross-Zürich» um 1918 sollte dieses Defizit in einem gesellschaftlich-politischen Prozess behoben und die Entwicklung des städtischen Grossraums definiert werden. Wesentlich war, den Druck auf die Innenstadt mit hohem Ausnutzungsgrad zu mildern und die Funktionen des Arbeitens und Wohnens räumlich zu trennen. Gartenstädte wie Friesenberg oder das Milchbuck-Gebiet sind Zeugnisse davon. Diese Trennung war aber nur realisierbar, wenn öffentliche Nahverkehrsmittel vorhanden waren. Die Strassenbahn trug bereits damals wesentlich zur Stadtentwicklung bei und war der wichtigste Verkehrsträger. Unter diesem Aspekt erhielt dann in den folgenden Jahrzehnten Zürich sein Tram-Kernnetz.3

Der Verkehrsknoten wächst – noch sind alle Fahrtrichtungen erlaubt. Um 1926. (Bild: E. Linck, Zürich)

Bellevue wird zum Verkehrsknotenpunkt

In den 1920er Jahren erlangte das Automobil immer grössere Bedeutung. Der Siegeszug des individuellen Verkehrsmittels war weniger wegen seiner Leistungsfähigkeit, sondern viel mehr wegen seines Platzbedarfs, unübersehbar – und ist es auch heute noch. Durch fehlende Gliederung des Verkehrsraums wie Inseln und Markierungen kam es an den innerstädtischen Knotenpunkten immer mehr zu chaotischen Zuständen, welche in einer hohen Anzahl von Unfällen mündete. Das Bellevue war davon nicht ausgenommen. Um 1927 schrieb denn auch der Stadtrat, dass «der stark zunehmende Kraftwagenverkehr das Studium zur Verbesserung zahlreicher Plätze erzwinge».Im gleichen Zeitraum wurden auch erste Stimmen laut, das Tram aus der Innenstadt zu entfernen. Mittels systematischer Verkehrszählungen erstellte man 1929 neuartige Flussdiagramme und konnte so die gefährlichen Situationen darstellen. Eine neue Zählung 1936 zeigte auf, dass sich der Verkehr seither verdoppelt hatte und unerträgliche Zustände befürchtet wurden; auf die Landesausstellung 1939 hin wurde noch mehr Verkehr erwartet.Noch 1938 wurde der Bellevue-Platz schliesslich umgebaut und die Verkehrsströme laufen seither gebündelt in einem Kreiselverkehr.Der unaufhörliche Verkehr und die Vermehrung der Fahrzeuge brachten es mit sich, dass im Mai 1950 die Lichtsignalanlage in Betrieb genommen wurde. Sie zählte «hinsichtlich ihrer Funktionsweise zu einer völligen Neuerung auf dem Gebiete der Verkehrsregelung, wie sie auch im Auslande noch nicht bekannt ist».7

«Am Bellevue, am Bellevue isch Züri e Stadt!»

Moderne Tramwartehalle für die Landi 39

Die 1938 dem Betrieb übergebene Wartehalle bildete den baulichen Auftakt zur Landi 39. Im Stil des so genannten «Neuen Bauen» wurde der Gebrauchswert der Architektur zur formbildenden Kraft. Dementsprechend nimmt der Rundbau die Dynamik des Platzes und die strömenden Bewegungen des Verkehrs auf.Dennoch war für die Erstellung der Bauten die neue Situation der Gleisanlagen massgebend. Auf der Insel entstanden eine Wartehalle mit Informationsgelegenheiten, einem Kiosk sowie Telefonkabinen. Die anderen Bedürfnisse wie WC-Anlagen und Diensträume wurden in einem zweiten Gebäude südlich der Insel angeordnet. Die Grundlage für die Konstruktion des Baus bilden der Rundbau sowie die drei Ständer, welche das 920 m2 grosse Schutzdach aufnehmen. Architekt war Stadtbaumeister Hermann Herter, welcher ein ästhetisch-gemeinschaftliches Stadtbild verfolgte. Der ETH-Professor Fritz Stüssi zeichnete für die Eisenkonstruktion verantwortlich. Besonderen Wert legte Herter auf die nächtliche Wirkung. Die indirekte Beleuchtung durch Neonröhren verleiht der Anlage eine elegante Note und zaubert noch heute in der Dunkelheit grossstädtisches Flair herbei. Das sich in der Wartehalle befindliche Oberlicht von 6 m Durchmesser zeigt eine Windrose mit Pfeilen, u.a. zu allen Hauptstädten Europas mit Angabe der Luftlinien-Entfernung. Damit signalisierte man: Das Bellevue ist das Zentrum Europas.9

Die neue Wartehalle von Herter/Stüssi, erbaut 1938. (Bild: M. Wolgensinger, Zürich)

Von der Wartehalle zum Café

In den 1980er Jahren erlitt die grosse Wartehalle eine zunehmende Verwahrlosung. Auch soziale Spannungen während der Zürcher Jugendunruhen entluden sich oft auf diesem Platz. Als nach einem Umbau Ende Oktober 1985 die neue italienische Espresso-Bar mit eleganter Einrichtung und einem Boden aus Carrara-Marmor eingeweiht wurde, erhielt die Wartehalle eine völlig neue Bedeutung. Im Belcafé bekam man den «schnellsten und besten Espresso» für 1 Franken 80 und sorgte so wohl schon manchem Umsteiger für einen glücklichen Start in den Alltag.10
Im Jahr 2005 wurde die Café-Bar im Zuge einer Gebäudesanierung renoviert, verantwortlich dafür zeichnete die Zürcher Innenarchitektin Claudia Silberschmidt. Die grossen Fenster lassen uneingeschränkte Blicke zu und geben dem Raum eine grosszügige Note. Die alten, aussen angebrachten Bänke aus Eschenholz inspirierten die Architektin zur Entwicklung neuen Mobiliars: Passend zu den alten Bänken stehen nun gedrechselte Tische davor. Für die beiden Tresen im Innern wurden Hocker und Stühle entworfen, deren Sitzschalen aus Formsperrholz (Durofol) sich auf einem Untergestell aus Edelstahl an die Sitzschalen der ehemaligen Tramgenerationen beziehen.11

Mit 1900 Tramfahrten pro Tag und fast 76 000 Fahrgästen ist das Bellevue nach wie vor einer der wichtigsten Knoten im VBZ-Netz. Der Umbau 2015 wird den Platz ziemlich durchrütteln. Die Gleisanlage wird sich in ihren Grundzügen nicht wesentlich verändern. Ein Wermutstropfen bleibt dennoch: Das neue Gleislayout wird durch eine erforderliche Begradigung (BehiG)12 nicht mehr ganz überall der Stromlinienform des Daches folgen. Die Frage, ob das Bellevue als «Zentrum Europas» gelten kann, muss jeder für sich beantworten. Dennoch dürfte die musikalische Widmung aus Werner Wollenbergers Musical «Eusi chlii Stadt» mit dem Titel «Am Bellevue», vorgetragen von Margrith Rainer & Ruedi Walter, weiterhin Gültigkeit haben: …am Bellevue, am Bellevue isch Züri e Stadt!».

Interessantes zum Bellevue

Während der 5-wöchigen Bellevue-Baustelle wird jede Woche ein Artikel zum Thema Bellevue veröffentlicht. Ab 10. Juli erfahren Sie auf dieser Plattform, warum die Baustelle auch Grund zur Freude ist.

Quellenangaben

  1. Maissen Anna Pia, Direktorin Stadtarchiv Zürich, Von Kohle, Salz und Schienen, 2005
  2. Trüb/Balen/Kamm, Ein Jh. Zürcher Strassenbahn, 1982
  3. Kurz Daniel, Disziplinierung der Stadt, 2008
  4. Geschäftsbericht Stadtrat 1927
  5. NZZ vom 23.02.1937
  6. Kurz Daniel, Disziplinierung der Stadt, 2008 und Hippenmeyer, 1931/Stat. Jahrbuch
  7. NZZ vom 31.05.1950
  8. Archithese 2.95 Historisches Lexikon der Schweiz/Neues Bauen
  9. Podcast «Geld und Geist in Zürich», VBZ
  10. NZZ vom 30.10.1985
  11. Werk, Bauen + Wohnen, Pradal Ariana, 2006
  12. Behinderten-Gleichstellungsgesetz des Bundes: Die Zugänge zu den Tramfahrzeugen müssen niveaugleich erfolgen, in Kurven ist dies technisch nur bis zu bestimmten Radien möglich.

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