Zwei ungleiche Brüder (Teil 1)

Bild von Buslinie 67, die am Bahnhof Wiedikon startet

Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Buslinien 67 und 76.

Stimmt, ein bisschen frech ist sie schon, die im Titel behauptete familiäre Beziehung der zwei Stadtzürcher Buslinien 67 und 76. Fakten dazu sucht man nämlich vergebens. Was letztlich logisch ist: Bei Fahrzeugen mag es Art-, aber bestimmt keine Bluts- beziehungsweise Ölverwandtschaft geben.

Und doch halten wir daran fest. Denn tatsächlich verbindet die Strecken mehr als nur die gleichen Zahlen im Nummernschild und den Bahnhof Wiedikon als gemeinsamen Start- und Endpunkt. Und gerade bei einem Linienpsychogramm – Leserinnen und Leser, welche diese beliebte Rubrik rege mitverfolgen, wissen das – geht es eben meist um Aspekte und Charaktereigenschaften, die nicht auf Anhieb erkennbar sind.

Zum Beispiel Fahrtzeit: Diese beträgt beim 67er 36,29 Minuten, und beim 76er 18,16 Minuten. Wir glaubten erst, die Augen würden lügen, doch die Wiederholungen des Tests führten zu quasi identischen Resultaten. Handgestoppt, klar – doch dass der eine Bus seine Fuhr in ziemlich genau der Hälfe der Zeit des andern erledigt, das geht definitiv über die gewöhnlich-distanzierte Beziehung hinaus, die Zürcher Verkehrslinien sonst untereinander pflegen.

Echt, gehört das noch zur Stadt?

Wobei wir natürlich mitten beim Thema Charakter wären. Und auch da besteht eine auf den ersten Blick (beziehungsweise bei der ersten Fahrt) kaum erkennbare «Verbindung», die bei menschlichen Familien immer wieder zu beobachten ist – nämlich die geradezu ostentative Abgrenzung des einen Bruders vom anderen.

Etwas überspitzt gesagt: Der 67er, der seine Fahrgäste von Wiedikon über die Gut- und die Fellenbergstrasse erst nach Albisrieden und von da weiter über die Haltestelle Untermoosstrasse und die lange Rautistrasse bis hinaus zum Dunkelhölzli in Altstetten bringt, ist charakterlich auf der anständig-«klassischen» und stilistisch auf der ländlich-ruralen Seite daheim.

Erster unbestechlicher Beweis hierfür sind Stations-Namen wie «Im Gut» (über die wir mal eine Innenhalten-Stellen-Kolumne verfasst haben), «Albisriederdörfli» oder «Schulhaus Buchlern».

Beweis Nummer 2, ähnlich eindrücklich: Das auf dieser Route omnipräsente Gewerbe alter Schule. Man entdeckt Bäckereien, Metzgereien, Blumen- und Quartierlädeli, ja gar eine Schreinerei. Dazu Gaststätten namens «Kafi Öfeli» und «Sternen». Und auch sonst ist da, was man in einem helvetischen Mittelstands-Idyll erwarten darf, erwarten kann, erwarten muss: Bank- und Grossisten-Filialen, Brunnen mitten im Quartier, die Heimstätte eines populären Quartierfussballvereins (namens FC Altstetten), das eine oder andere Altersheim, eine Finnenbahn fürs Jogging, Naherholungszonen vor der Haustüre – fast alles ist (oder zumindest scheint) im lieblich ländlichen Lot, bisweilen fragt man sich beim Hinausschauen: Echt wahr, das gehört alles noch zur Stadt Zürich? (und ist seltsam beruhigt, wenn man auf der einen oder anderen Hausfassade eine «FCZ»-Sprayerei entdeckt).

Das mit dem gefühlten Stadt-Land-Graben war übrigens schon viel, viel, viel früher so – wenn wir damals als vermeintlich lässige Wollishofer Teenager alle paar Jahre mal Lust hatten auf eine «Landeier-Party» (wie das im Jugendslang hiess), frästen wir mit den «Ciao»- oder «Puch Maxi»-Töffli ins Albisriederhaus, das sich heute noch im Herz des Quartiers befindet … und waren am Ende des Abends jeweils froh, wenn uns diese draufgängerischen Mädchen beim Küsschen keine Knutschflecken hinterlassen hatten.

Anyway, zurück ins sittliche Hier und Jetzt. Und damit zur Tatsache, dass bloss die dem architektonischen Zeitgeist huldigenden und entsprechend speziell geformten Neubauten auf Höhe Rautistrasse 296 plus Nachbarschaft aus dem Rahmen fallen; im Gegensatz zu den anderen Gebäuden an der Linie 67 wirken sie wie künstliche Wohnlabore. Doch selbst hier ist die Moderne nicht preussisch-streng bis zum Äussersten durchexerziert, nein, zwei bunte Gartenstühle sorgen für den wohltuenden Stilbruch.

Da muss ein Lautgedicht her!

Punkt 3. Wo Harmonie im Grossen, da (sehr häufig) Empathie im Kleinen. Was ich damit sagen will, ist folgendes: Bei der zweiten meiner insgesamt drei Erkundungsfahrten mit dem 67er wartete an einer Haltestelle ein schwerstbehinderter junger Mann im elektrischen Rollstuhl. Er brauchte nicht einmal ein Handzeichen zu geben – kaum hatte der Bus angehalten, stieg der Fahrer aus, öffnete die Doppeltüre in der Mitte, klappte eine im Boden verborgene kleine Rampe aus, der Rollstuhlfahrer ruckelte mit seinem Gefährt in den Bus, der Chauffeur klappte die Rampe wieder ein, und weiter ging die Fahrt. Er tat all dies freundlich, routiniert, stoisch, ohne Aufhebens. So wurde aus diesem wohl alltäglichen Vorgang ein berührender Akt.

So (oder eher: sooooooo, es muss Ihnen, werte Leserinnen und Leser, nämlich klargemacht werden, dass jetzt etwas Besonderes passiert). Um all das eben Erlebte noch intensiver und vehementer zu vermitteln, wage ich jetzt den Versuch, diese Fahrt von Bahnhof Wiedikon zum Dunkelhölzli und zurück in Form eines dadaistischen Lautgedichts zum Ausdruck zu bringen. Vordenker dieser eigenwilligen, in Zürich erfundenen und leider nicht allzu weit verbreiteten Kunstform war Hugo Ball, seine zwei wichtigsten Lautgedichte heissen «Karawane» und «Gadji Beri Bimba».

Mein Mini-Werk heisst – nomen est omen – selbstverständlich «67». Wie bei jedem Lautgedicht empfiehlt es sich, die Zeilen laut und deutlich zu artikulieren, so, als würde man sie auf der Schauspielhause-Bühne vor Publikum aufsagen. Erst auf diese Weise manifestiert sich die schiere Kraft, die dieser unkonventionellen Poesie innewohnt.

67.67?67! Siebnsächzg.

Blu-blö-bleu-blau, rau-ratatat, rau-ratatat, rau-dooom.

Turn-nurt, nurt-Turn.

A-A-A-A-A.

lbi-srie-lbi-srie-lbi-srie-lbi-srie.

– den – den – den – den.

Aaaaaaah. Jöööööööö.Ooooooooh.Mmmmmmm.Schschschschsch.Yeeeeeeeeeh. Yeke.

 A-A-A-A-A.

lt-ste-te-lt-ste-te-lt-ste-te-lt-ste-te.
Raaaaaaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuttttttttiiiiiiiiiiiiiiiiii.

Ra-uuu-tttt-iiiii

Blu-blö-bleu-blau. Rod-röht-rouge-rot.
Ilzlöhleknud-Nokideiw-mi-Sub
67.67?67! Siebnsächzg.

PS: Wer übrigens eben gerade dachte: «Was? Der Typ brauchte ganze drei Fahrten für diese läppische Pseudo-Poesie?», dem sei gesagt: Rom wurde im Fall auch nicht an einem Tag erbaut!)

Teil 2 folgt demnächst hier auf vbzonline.

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