Zwei ungleiche Brüder (Teil 2)

Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Buslinien 67 und 76.

Steter Wandel als Konstante!

So, und damit kommen wir jetzt zu Bruder 76. Wie eingangs erwähnt, beginnt zwar auch diese Linie beim Bahnhof Wiedikon. Dass sie jedoch in die entgegengesetzte Richtung losfährt, ist bereits ein erstes Indiz für ihren gänzlich anderen Charakter. Konkret (und im trendy Jargon, der dazu passt), flitzt der 76er nicht die «Birmi» (aka Birmensdorferstrasse), sondern die «Zweii» (aka Zweierstrasse) hinauf, bis er an der Schmiede Wiedikon stoppt. Und ab da wird emsig improvisiert – weil auf dieser Strecke aktuell emsig gebaut wird.

Paradebeispiel dafür ist der Halt «Manesseplatz». Er befindet sich derzeit nicht wie üblich da, wo er eigentlich hingehört, nämlich vor der Metzgerei Keller und dem Fine-Dine-Lokal «Maison Manesse», sondern geschätzt fast 100 Meter entfernt – also da, wo die Hopfen- in die Austrasse einmündet. Weil auch rund um die SZU-Station «Binz» Erneuerungsarbeiten getätigt werden, befand sich auch die gleichnamige 76er-Station auf zwei meiner drei Fahrten an leicht verschobenen Standorten. Und kaum ist man drin in der Gewerbezone, sieht man einen Kran und ein Einbahnschild, die dem Bus erneut einen Richtungswechsel aufzwingen, bevor er über die Räffel- und Grubenstrasse schliesslich zum (W)End(e)-Punkt namens Binz Center gelangt.

Die mitlesenden Albisrieder und Altstetter denken nun wahrscheinlich: «Bin ich froh, haben wir beim 67er kein solches Chrüsimüsi!» Genauso ist aber schwer anzunehmen, dass diese «Die einzige Konstante ist der Wandel»-Verkehrsführung des 76ers den hier werktätigen oder wohnenden Menschen überhaupt nichts ausmacht – weil die «Binz» und die diversen in diesem Zipfel in Wiedikon ansässigen Start-up-Unternehmen und/oder Kreativwirtschafts-Firmen gar nichts anderes kennen (und lieben!) als ein stetiges Improvisieren und Neuorientieren. Und das gilt nicht nur das Angebot oder den Inhalt der Arbeit betreffend, nein, auch was den Arbeits- oder Wohnort betrifft, ist in der Binz eine gewisse Flexibilität gefragt, weil ein beachtlicher Anteil der Räumlichkeiten nur temporär beziehungsweise als Zwischennutzung gemietet werden können. Und, nicht zuletzt, weil ihr Bus der modernen Generation automatisch den Motor abstellt, wenn er hält.

Das unablässige Erblühen und Verwelken, gerade im kulturellen oder Ausgangs-Sektor, gehörte schon immer zum Wesen der Binz. Zu längst vergangenen Zeiten, als es in Zürich noch ein Tanzverbot an Feiertagen gab, war die Binz eine Art kleines Schlaraffenland, egal ob Ostern, Pfingsten, Weihnachten oder andere «heilige» Anlässe – jedes Mal hämmerten in den illegalen Partykellern der Binz die besten Beats der Stadt. Das Restaurant «G27» an der Grubenstrasse 27 war eines der ersten Pop-up-artigen Lokale der Stadt, das später in einen regulären Betrieb überging – und seine vielschichtige Raumstruktur auch für Hochzeiten, Firmenfeiern oder Kulturevents öffnete.

Gerade an dieser Lokalität lässt sich indes auch ablesen, dass selbst die Binz nicht von einer (bislang zum Glück bloss leichten) Gentrifizierung gefeit ist: Nach einer baulichen «Aufwertung» der vorderen Grubenstrasse, die auch steigende Mieten zur Folge hatte, gaben die Betreiber des «G27» ihr Lokal auf. Heute ist mit Smith & De Luma eine eher dem besser betuchten Zürich zuzwinkernde Kombination aus Fleischspezialitäten-Restaurant und Weinhandlung eingemietet.

So, damit beenden wir den kleinen Stadtentwicklungs-Diskurs. Neben dem nostalgischen Ausflug in die Quartiergeschichte sollte er natürlich primär aufzeigen, dass die zuvor geäusserte Behauptung, der 67er und der 76er würden, wie in etlichen Familien oft zu beobachten, über ein quasi gegensätzliches Naturell verfügen, eben nicht bloss Behauptung, sondern Realität ist.

Damit sofort zurück in den Bus, wir wollen dem Chauffeur keine Verzögerung aufbürden. Wobei das fast nicht möglich ist. Denn – Achtung, ein nächstes Unikum dieser Linie – auf dem Rückweg fehlen die Stationen Räffel- und Grubenstrasse, aus sieben werden fünf bis zum Ziel.

Da muss noch ein Lautgedicht her!

Bald liegen die prächtigen Fabrik- und Industriebauten hinter uns, bald fahren wir zum zweiten Mal am Ende der Welt vorbei (naja, so ungefähr, dies – also «World’s End» – ist der Name des 1999 eröffneten Tattoo-Studios, das an der Kreuzung Au- und Steinstrasse steht), passieren kurz danach das tolle, jedoch leider durch Schmierfinken verunstaltete Mural des Streetart-Kollektivs «One Truth» an der Fassade der Heilpädagogischen Schule, stoppen diesmal am anderen Ende der Schmiede Wiedikon, und von da geht’s nun doch noch die «Birmi» runter, vorbei an der Wabe 3 (rechts) und der Bäckerei Brändli (links) zum Bahnhof Wiedikon.

Selbstverständlich bekommt auch der 76er ein gleichnamiges Lautgedicht (beziehungsweise: einen weiteren Versuch davon); weil die Fahrzeit bloss halb so lang ist, hat es aber auch nur halb so viele (nämlich sieben) Strophen.

76.76?76! Sächsnsiebzg.

Um-Drum-Herum.

Binz-binz-binz-unz-unz-unz-mjam-mjam-mjam.

Bah-Schmi-Man!

Bi-Räf-Gru-BiCe!
7 & 5 = A bis Z

76.76?76! Sächsnsiebzg.

PS: Sie müssen es halt wirklich richtig laut und deutlich artikulieren, erst dann entfaltet sich seine volle Wirkung.

Weiter zu Teil 1 dieses Linienpsychogramms, der Linie 67

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