«Wer hat die Macht?»

«Während wir feiern» heisst das Buch, das in Zürich derzeit breit diskutiert wird. Ein Roman, der durch die Gedankenströme vieler Protagonisten aufzeigt, wie schnell wir uns eine Meinung bilden – und damit falsch liegen. Ein Buch, das aber trotzdem Meinungen zulässt und zum Debattieren einlädt. Ein Gespräch mit der Autorin Ulrike Ulrich.

«Zürich liest ein Buch»: So lautet das Motto des  Veranstaltungsformats, das dieses Jahr von den Initianten des bekannteren Literaturevents «Zürich liest» erstmals lanciert wird. Welches Buch den Zürcherinnen und Zürchern zur Lektüre ans Herz gelegt wird, hat eine dreiköpfige Jury entschieden. Allen Grund zum Feiern hat Autorin Ulrike Ulrich, fiel doch die Wahl auf ihr jüngstes Werk, das genau so heisst, nämlich: «Während wir feiern». Es handelt sich dabei um ihr viertes belletristisches Buch, welches vergangenes Jahr erschienen ist – die Texte der 52-jährigen Autorin wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit Anerkennungspreisen der Stadt Zürich.

Die Geschichte, um die sich alles dreht, ereignet sich an einem Schweizer Nationalfeiertag mitten in Zürich. Während die Hauptfigur, Sängerin Alexa, als Deutsche (und angehende Schweizerin) die hiesigen Traditionen hochhält und ein Fest auf ihrem Dachbalkon (inklusive Darbietung einer Interpretation des Guggisberg-Lieds) ausrichtet, sucht ihr bester Freund Zoltan verzweifelt nach Kamal, der einen negativen Asylbescheid erhalten hat und danach abgetaucht ist. Zoltan, den ein Mix aus Verliebtheit und Schuldgefühlen gegenüber Kamal bewegt, ist in heller Aufruhr. Derweil hängen die übrigen Partygäste ihren ganz eigenen, vielfältigen Gedankengängen nach…

Ulrich beschreibt mit einer präzisen Beobachtungsgabe die vielstimmigen Gedanken, welche die verschiedenen Protagonisten an- und umtreiben. Es geht um Beziehungen, um Politik – vor allem aber um die kleinen Missverständnisse und die etwas grösseren Vorurteile des Alltags. Die wirklich wichtigen Fragen des Buchs sind allerdings zwischen den Zeilen zu finden.

Frau Ulrich, Sie schreiben, dass Sie für Ihren Roman von Virginia Woolfs Roman «Mrs. Dalloway» inspiriert wurden.

Ich trug – wie oft beim Schreiben – bestimmte Themen mit mir herum, von denen noch nicht klar war, was daraus wird. Klar war die Form eines Romans. Ausserdem sollten politische Fragen, die mich bewegen, einfliessen. Aber auch die Frage, wie man eine Liebesbeziehung lebt. Vor dem Hintergrund dieser Themen las ich ein weiteres Mal Woolfs Roman. Mich fasziniert an diesem Buch vor allem, dass es an einem einzigen Tag spielt. Und auf diese besondere Weise von einer Figur auf die nächste übergeht, sodass viele unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstehen. Der zündende Moment war dann aber ein Satz zum Ende hin, nämlich die Frage der Hauptfigur, wieso sich die Gäste das Recht nehmen, auf ihrer Gesellschaft vom Tod zu sprechen. Dieses Nebeneinander von Feiern und dem Leid Anderer ist ja auch ein Thema meines Buchs – wobei es hier nicht nur um die konkrete Feier auf der Dachterrasse geht, sondern um das Leben an sich.

Während wir feiern beziehungsweise gemütlich unser Leben leben, möchten wir nicht mit Unangenehmem belästigt werden…

Nein, so ist das nicht gemeint. Ich glaube vielmehr, die Personen in meinem Buch haben selber echte Probleme, in der Beziehung, mit ihrer Gesundheit, oder auch auf der Arbeit. Ich denke aber auch, dass man bisweilen vergisst, dass die Bedingungen, unter denen wir hier leben, nicht selbstverständlich sind – und vor allem auch hier nicht für alle gleich. Und dass es auch darum geht, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Bei Mrs. Dalloway ist die Verwobenheit mit dem zweiten Handlungsstrang, mit dem kriegstraumatisierten Septimus und seinem Suizid, weniger stark als in meinem Roman. Bei mir ist Zoltan, der beste Freund der Partyorganisatorin Alexa, verliebt in Kamal, der sich in einem zweiten Handlungsstrang mit der Angst konfrontiert sieht, ausgewiesen zu werden. So ist das Nebeneinander von Feiern und Unglück weniger klar voneinander getrennt.

Wie die Heldin Alexa sind auch Sie sowohl Deutsche als auch Schweizerin. Die Frage liegt auf der Hand: Wie autobiographisch ist der Roman?

Sie sind nicht die Erste, die mich danach fragt, und trotzdem würde ich sagen, er ist nicht besonders autobiographisch. Obwohl natürlich viele Themen enthalten sind, die mich persönlich beschäftigen: Jeder Gedanke hat ja im Grunde mit mir zu tun. Und der Handlungsstrang, bei dem es um die Auseinandersetzung mit der Einbürgerung geht, ist auch eng an mich und meine Erfahrungen angelehnt. Aber auch darin ist einiges schlicht erfunden. Grundsätzlich war die Tatsache, dass ich als Deutsche beziehungsweise jetzt als Deutsche und Schweizerin hier lebe, ein wichtiger Auslöser für die Auseinandersetzung mit dem Nationalfeiertag, der Zugehörigkeit und dem Gefühl, an einem Ort daheim zu sein.

Eine starke Figur im Roman ist der Tunesier Kamal. Sie arbeiten mit der Autonomen Schule Zürich zusammen, einem migrantischen Bildungsprojekt. Hatte dies einen Einfluss auf den Roman?

Tatsächlich ist es umgekehrt: Ich habe viel in den Berichten und Texten der Papierlosen Zeitung der Autonomen Schule recherchiert und Gespräche geführt. Das eigene Engagement bei der Autonomen Schule ergab sich erst daraus, durch mein Buch.

Wie real ist der Protagonist Kamal?

Ich habe während meinen Recherchen sehr vieles über verschiedene geflüchtete oder wegen ihrer Homosexualität verfolgter Menschen erfahren; das habe ich in Kamal zusammenfliessen lassen. Es gibt also keine konkrete reale Person oder Situation dazu. Bei Kamal mit seinen Angstzuständen und dem Unfall haben wir es natürlich insofern mit einer extremen Situation zu tun, als sich alles an einem einzelnen Tag zuspitzt. In der Realität erleben die Sans-Papiers diesen Zustand von prekären Lebensumständen, Angst und wiederkehrender Inhaftierung über eine lange Zeit.

Identitätsstiftung durch nationale, geschlechtliche oder religiöse Zugehörigkeit beschäftigt gerade westliche Gesellschaften derzeit stark. Das Themenfeld wird auch im Buch immer wieder aufgegriffen. Was hat Ihr Verständnis dafür geprägt?

Es handelt sich ja um sehr verschiedene Bereiche, die aber dort zusammenkommen, wo es um die Menschenrechte geht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist für mich eine ganz wichtige Referenz und übrigens auch ein grossartiger Text. Der eben erklärt, dass man einerseits das Recht hat, in all diesen Bereichen zu wählen, zu entscheiden – und andererseits und vor allem auch: nicht diskriminiert zu werden. Das ist mein Zugang zu diesen Themen. Man kann Dinge durchaus anders sehen, unterschiedlicher Meinung sein. Bei alledem bleibt es aber wichtig, sich gegenseitig zu respektieren und anzuerkennen, dass alle «frei und gleich an Würde und Rechten geboren» sind, in aller Unterschiedlichkeit.

Die Autorin Ulrike Ulrich. (Bild: © Ute Schendel)

Im Beiheft zu «Zürich liest» steht geschrieben, dass Sie sich vor allem für Machtverhältnisse interessieren. Wie ist dieses Motiv entstanden?

Das Spannungsfeld «Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit» beschäftigt mich schon seit jeher, ich glaube, das liegt in meinem Naturell. Ich interessiere mich für die Frage: Wer hat die Macht, wie sind die Verhältnisse verteilt? Wie lässt sich die Macht verteilen, sodass es keine Machtanhäufung und keinen Machtmissbrauch gibt? Das ist noch nicht einmal nur politisch gemeint, sondern durchaus auch persönlich, also auf der Beziehungsebene.

Macht auch als Macht der Sprache?

Auf jeden Fall. Sprache prägt unser Denken und Handeln. Als ich mit dem Schreiben begann, war das bei mir noch nicht so ausgeprägt. Mit der Zeit hat sich dieses Anliegen intensiviert, und es wurde mir wichtig, auch im literarischen Text zu versuchen, keine Gewalt oder Manifestierung von Ungerechtigkeit durch Sprache auszuüben. Obschon die Verhältnisse im Literarischen natürlich etwas anders liegen, wenn etwa eine Figur durch ihre Rolle Gewalt oder Diskriminierung in der Sprache einsetzt. Letztlich aber erhält ein Wort, das immer wieder benutzt wird, eine Kraft – selbst dann, wenn es relativiert oder kritisch betrachtet wird. Ich bin in dieser Hinsicht sensibler geworden. Mit der gendergerechten Sprache beschäftige ich mich schon lange und versuche, diese bei mir selbst in den Texten und im Gespräch durchzusetzen. Und auch auf ihre Wichtigkeit hinzuweisen.

Sie sagen, Schreiben sei für Sie die Freiheit, sich mit Hilfe von Sprache auf die Suche nach Antworten von Fragen zu begeben, die Sie umtreiben. Welche Antworten haben Sie bei der Entstehung des neuen Romans gefunden?

Ich glaube, ich habe einerseits eine Menge Antworten gefunden beim Recherchieren und durch die Figuren des Buchs, die mir ans Herz gewachsen sind. Was ich aber immer sehr spannend finde, ist, wie das geschriebene Buch Einfluss auf mein Leben nimmt und eine Weiterentwicklung in meinem Bewusstsein in Gang setzt. Nicht nur durch die Existenz des Buches, auch durch die Reaktionen darauf habe ich meinen Horizont weiter geöffnet. Und möchte noch genauer hinsehen, warum jemand so handelt, wie er oder sie es tut, ohne gleich meine Schlüsse zu ziehen.

Verstehen statt urteilen.

Ja, vor allem möchte ich nicht ver-urteilen und auch nicht moralisieren, selbst wenn ich mich natürlich trotzdem immer wieder über verschiedene Dinge aufrege. Und mich auch positioniere.

Apropos Aufregen: Ist es Zufall, dass etliche Aspekte ihres Buches gerade jetzt sehr kontrovers diskutiert werden?

Ich bin nicht in den sozialen Medien präsent und beschäftige mich daher oft erst mit den Dingen, wenn sie nicht mehr so hochgekocht werden. Bin dann aber froh, wenn ich durch einen reflektierten Artikel auf die Diskussionen aufmerksam werde. Und ich finde es ja gut, wenn debattiert wird. Bei Themen wie der ungerechten Verteilung von Privilegien, von Deutungs- und Entscheidungsmacht, fragt man sich ja überhaupt, wie kann das sein, dass erst jetzt darüber so breit diskutiert wird. Wichtig erscheint mir jedoch Offenheit, dass sich Positionen nicht komplett verhärten.

Diese Frage ist immer ein wenig eigenartig, aber sie soll nun trotzdem gestellt sein: Gibt es eine konkrete Botschaft, die Sie den Leserinnen und Lesern vermitteln möchten oder wollen?

Nun, ich habe inzwischen festgestellt, dass man das Buch anders lesen kann, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Menschenrechte sind jedenfalls Werte, die ich vermitteln will. Das ist ein treibender Aspekt. Ich möchte diesbezüglich nicht den Eindruck erwecken, man könne es auch anders sehen.

Inwiefern wurde es anders gelesen – oder falsch verstanden?

So, dass die Figuren, die sich politisch engagieren, in ihrem Bemühen gar nicht mehr ernst genommen werden, weil sie auf dem Dach feiern und da auch ihre eigenen Probleme wälzen. Und diesbezüglich zum Teil alle in einen Topf geworfen werden. So sehe ich diese Figuren nicht.

Was erhoffen oder wünschen Sie sich von der «Zürich liest»-Aktion, die uns allen ans Herz legt, Ihr Buch zu verschlingen?

Etwas Ähnliches wie das, was ich selber mit dem Buch erlebt habe – nämlich eine gewisse Offenheit, sich mit Themen und Meinungen auseinandersetzen, die eigenen Vorurteile zu überprüfen. Auch das, was sie vorhin erwähnt haben, nämlich die Frage der Machtverhältnisse zwischen den Zeilen: Die Klarheit darüber, in welcher Position man sich gerade befindet, wo man Einfluss hat oder haben könnte.  Aber eigentlich vor allem, dass das Buch zu den Menschen kommt – und sie etwas damit anfangen können.

«Während wir feiern»

Der Roman «Während wir feiern» von Ulrike Ulrich ist im Juli 2020 im Berlin Verlag erschienen. Er wurde von einer Jury des Buchhändler- und Verlegervereins ZBVV, Veranstalter des bekannten Festivals «Zürich liest» wie auch des neuen Formats «Zürich liest ein Buch», ausgewählt, um von den Zürcherinnen und Zürchern gelesen und diskutiert zu werden. Die Veranstaltung findet dieses Jahr erstmals statt, und zwar vom 23. bis 30. April 2021.

Weitere Infos:
Interview mit Ulrike Ulrich auf vbzonline von 2015

*Die VBZ sind Kooperationspartner der beiden Veranstaltungen «Zürich liest» und «Zürich liest ein Buch».

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren