Wir wünschen uns verregnete Wochenenden! Noch bis zum 28. Juni finden nämlich die «Festspiele X» statt, dieses Jahr mit einem inspirierenden Programm, das mehrheitlich online stattfindet. Für den Fall, dass die Sonne dennoch scheinen sollte, haben wir schon mal einen Podcast mit Stadtspaziergang ausprobiert, und zwar aus der fünfteiligen Serie zum Thema «Aussersihler Visionärinnen». Zusätzlich erzählt Podcast-Redaktion Robin Bretscher, wie sie zur Zürcher Geschichte gefunden hat.
Die Kultur, sei es nun Musik, Theater, Tanz – man möge mir verzeihen, wenn ich nicht all ihre Formen im Detail aufzähle – ist dazu da, uns durch all unsere Sinne zu berühren. Dass es möglich ist, trotz physischer Distanz zu berühren, haben uns die Kulturschaffenden in den vergangenen Monaten mehr als einmal bewiesen. Auch die Organisatorinnen und Organisatoren der Festspiele Zürich haben aus der Not eine Tugend gemacht. So kommen die Besucher dieses Jahr online in den Genuss eines facettenreichen Angebots, von Charleston über Taschen nähen und Konzerten bis zum Kultur- und Kunst-Hackathon.
Als Paradoxon zur binären Umsetzung sind die diesjährigen «Festpiele X» eine Hommage an die 20er-Jahre. Bei aller Digitalität ist aber auch für jene, die sich analog im Raum bewegen wollen, etwas dabei. Nämlich in Form von Stadtspaziergängen, auf denen wir mit verschiedenen Podcasts unter dem Titel «Isch s’20 abe» Zürcher Visionär*innen kennenlernen. Thematisch richtet sich deren Blick weg von den etablierten Kulturinstitutionen der Innenstadt auf die Kultur im Kreis 4. Den Auftakt macht ein knapp einstündiger Spaziergang zum Thema «Aussersihler Visionärinnen», auf dem bewusst wird, dass es in Zürich schon immer engagierte und mutige Mitbürger und in allen voran Mitbürgerinnen gab. Die nachfolgenden Zeilen, das möchte ich betonen, können und sollen nur einen ganz kleinen Einblick in den sehr informativen Inhalt dieses Spaziergangs gewähren.
Jassen, Rauchen an der Front, heftige Proteste am Helvetiaplatz
Die Führung wird per Knopf im Ohr begleitet von Quartierhistoriker Hannes Lindenmeyer und startet am Helvetiaplatz, dem «Demoplatz» schlechthin. Wer glaubt, dass die Frauenbewegung erst in den 60er-Jahren entstand, irrt. Wussten Sie, dass schon anno 1917, kurz nach Ende des ersten Weltkriegs, Frauen auf dem Platz demonstrierten? Damals kämpften unsere weiblichen Vorfahrinnen und namentlich die Aktivistin Rosa Bloch durchaus resolut mit «Hungerdemos» um existenzielle Rechte. «Ihre Männer standen an der Grenze, schlugen sich die Zeit dort tot mit Jassen, Rauchen und Böckli gumpen, hockten nichtstuend herum, während die Frauen in der Arbeit fast ertranken und kaum Nachtruhe fanden», schrieb Bloch dazu. Heute liegt Stille über dem Platz, und so leer, wie er sich präsentiert, stellt er die optimale Leinwand dar, um in Gedanken die turbulenten Szenerien von anno dazumal Gestalt annehmen zu lassen.
Ein etwas weniger prominenter Flecken Erde ist die Luther-Wiese hinter der St. Jakobs-Kirche. Das Schöne an diesen Spaziergängen ist ja mitunter, dass wir fortan nicht mehr an der kleinen Grünfläche vorbeiziehen können, ohne daran zu denken, dass wohl an kaum einem anderen Ort der Stadt Tod und Leben so kontrastreich aufeinander stossen. Es hat seinen Grund, weshalb der Platz nach Mentona Moser benannt werden soll. Sie nämlich war die Geburtshelferin dessen, was auf dem Platz steht – eine Errungenschaft, die Familien heute überall in den Städten zu schätzen wissen. Auf einer Schaukel vor- und zurückwippend lausche ich der ebenso packenden wie berührenden Geschichte dieser Frau, und staune mit jedem Wort mehr, wieviele – auch für heutige Verhältnisse – moderne und initiative Frauen es Anfang der 20er-Jahre gab.
Maulkörbe und Schubladisierungen
Die nächste Station ist die Kasernenstrasse 17, wo der Armen- und Arbeiterarzt sowie Schriftsteller Fritz Brupacher mit seiner russischen Frau Paulette eine Praxis unterhielt. Schon der Titel seiner Biographie «Ich log so wenig als möglich» lässt erahnen, dass wir uns bei dieser Lebensgeschichte keine Sekunde langweilen werden. Nicht nur der mit anarchistischen Ideologien sympathisierende Brupacher lebte eine progressive Gesinnung. Paulette, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts als Assistenzärztin für Drogenabhängige arbeitete, setzte sich unter anderem für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ein. Die Gynäkologin mit jüdischen Wurzeln wurde – von zwei Pfarrern – gar angezeigt, verhaftet und erhielt in Solothurn und anderen Kantonen ein Redeverbot.
Wer mit dem 2er öfter mal die Badenerstrasse entlang fährt, hat sie bestimmt schon gesehen: «Die Frau», eine Skulptur der 1898 geborenen Alis Guggenheim, die zwischenzeitlich in Moskau lebte und dort der Kommunistischen Partei der Sowjetunion angehörte. Das Werk wurde anno 1928 an der Saffa-Ausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt. Vielsagend ist auch ein Zitat der Bildhauerin in ihren Memoiren: «Für die Schweizer bin ich nur eine Jüdin, für die Juden bin ich nur eine Kommunistin, für die Kommunisten bin ich nur eine Künstlerin, für die Künstler bin ich nur eine Frau, für die Frauen nur ein Fräulein mit einem Kind.». Wie schon Aristoteles einst sagte: «Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile»: Ich werde gewiss daran denken, wenn ich zukünftig im Tram an der selbstbewussten Frauenstatue vorbeirausche.
Dass sich soziales Engagement und Religiosität nicht ausschliessen muss, erfahren wir vor der Efeu-umrankten Fassende des Gebäudes gleich hinter dem Restaurant «Gartenhof», wo der der sozialistische Theologieprofessor Leonhard Ragaz mit seiner Frau, der Lehrerin Clara lebte. Die Eheleute waren Mitglieder der sozialreformerischen Settlement-Bewegung und halfen mit, Wohngenossenschaften aufzubauen. Obendrein schulten sie die Mitbürger darin, wie man eine Volksinitiative aufbaut. Auch im Namen des Friedens war das pazifistische Paar aktiv; sie richteten etwa eine Beratung für Dienstverweigerer ein (die übrigens heute noch existiert), und unterstützten aktiv Flüchtlinge.
Der letzte Spaziergang führt zum lauschigen Hallwylplatz, Ecke Verena-Conzett-Strasse. Ich setze mich auf eine Parkpank, und werde nachdenklich. Werden die modernen Errungenschaften nicht zu oft als selbstverständlich hingenommen, der Kampf für eine bessere Welt vernachlässigt? Verena Conzett wurde schon als 13-jährige zur Arbeit in der Fabrik geschickt. Die ärmlichen Verhältnisse mögen prägend gewesen sein für die spätere Präsidentin des Schweizerischen Arbeiter-Bundes. Eine tüchtige Unternehmerin, die nach dem Selbstmord ihres Mannes dessen Druckerei im Alleingang übernehmen musste. Dabei wurde sie nicht etwa unterstützt, sondern vielmehr boykottiert. Sie liess sich nicht bremsen, im Gegenteil. Conzett bewies Kampfgeist, startete mit der Frauenzeitschrift «In freien Stunden» und später mit dem Conzett-Huber-Verlag durch.
Robin Bretscher, die Perlentaucherin
«Heieiei, warum redet man nicht mehr darüber?» Diese Frage stelle ich mir auch, sie kommt aber von Robin Bretscher, welche die von Kulturanthropologe Michael Hiltbrunner kuratiertenThemen aufbereitet und die Interviews, unter anderem mit Historiker Hannes Lindenmeyer, geführt hat. Die gebürtige Zürcherin liess sich vom Format der Podcasts begeistern und taucht seit Anfang 2019 immer tiefer in die Zürcher Geschichte ein. Sie befördert – etwa in ihrem eigenen Podcast «Turicana» – die etwas verborgeneren Perlen des vergangenen Stadtlebens an die Oberfläche. Trotzdem hat sie das Staunen nicht verlernt, wie sie im Gespräch zu erkennen gibt, etwa wenn es um das Thema der Festspiele, die 20er-Jahre geht: «Es war eine aufregende, eine umwälzende Zeit. Viele Menschen haben sich für notwendige Veränderungen, mehr Rechte und einen besseren Lebensstandard eingesetzt. Das ist vielen heute nicht bewusst. Auch für mich war es überraschend – ja, der Gedanke berührt mich, wie viele Individuen und vor allem Frauen es in Zürich gab, die sehr viel Energie aufwandten, um sich für Verbesserungen einzusetzen.»
Zur Zürcher Geschichte kam die Masterabsolventin in Germanistik und Anglizistik, wie sie sagt, weil sie sehr gerne studiert habe und die Schätze der Zentralbibliothek auch nach dem Studium nutzen und ihren Wissenshorizont erweitern wollte. Schnell war sie angetan von der Schweizer Geschichte und jener ihrer Heimatstadt, blieb dabei aber pragmatisch: «Die Schweizer Geschichte ist sehr weitläufig. Es sollte für mich machbar bleiben.» Anfangs habe sie nicht besonders viel über die Zürcher Geschichte gewusst, ihr Umfeld ebensowenig. «Warum ist das eigentlich so?» habe sie sich gefragt. Es blieb nicht bei der Frage, sie wollte daran etwas ändern. Und heute? «Mittlerweile habe ich mich gut eingelesenin die Zürcher Geschichte und wusste schon einiges, was in den Podcasts der Festspiele erwähnt wird. Gerade Rosa Bloch oder Mentona Moser sind Namen, die man noch schnell einmal hört, wenn man sich mit dem Thema befasst». Trotzdem gab es auch für die wissensdurstige 29-jährige noch Neues zu entdecken, die Geschichte um Alis Guggenheim etwa.
Zum Schluss muss ich mein oben genanntes Paradoxon korrigieren. Elegant spannt Bretscher nämlich den Bogen vom Gestern zum Heute: «Spannend ist ja, dass die 1920er-Jahre eine herausfordernde Zeit waren, und das 2020 ist es wieder. Die Verschiebung der Kultur ins Digitale haben die Festspiele, ganz getreu dem Motto des Anlasses ‹Rausch des Jetzt›, perfekt gemeistert.»
Festspiele Zürich
Die «Festspiele X - Rausch des Jetzt» finden vom 5. bis 28. Juni 2020 statt. Alle Infos und das Programm finden Sie unter festspielex.ch
Titelbild: Wikipedia