Über die Zukunft des Verkehrs

Welches ist die richtige oder zumindest reale Verkehrsstrategie für eine Grossstadt mit Millionenagglomeration wie Zürich? Um diese und verwandte Fragen
zu klären, brachten wir zwei Männer an einen Tisch, die von ihren Denkhaltungen und Visionen her auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein könnten: Den ETH-Professor und ÖV-Experten Ulrich Weidmann und den Autovisionär Frank M. Rinderknecht.

Wir freuten uns auf einen harten, argumentativen Schlagabtausch – und staunten nicht schlecht, als wir stattdessen Zeugen eines spannenden und letztlich konsensorientierten Diskurses wurden.

Interview: Julia Müller, Thomas Wyss
Bilder: Rico Rosenberger
Ein Artikel aus dem Magazin 2030, erschienen im Juni 2014

Herr Weidmann, Herr Rinderknecht, beginnen wir mit einer aktuellen Frage: Zwischen den Systemen öffentlicher Verkehr und Individualverkehr herrscht heute in grossen Städten wie Zürich eine Art Zwangskoexistenz – wie lange kann diese künstliche Balance gut gehen?
Ulrich Weidmann: In Zürich sind langsam aber sicher alle Systeme am Limit. Der Preis der Koexistenz ist hoch. Keiner holt das heraus, was er eigentlich könnte. Wenn wir an diesem Prinzip festhalten, ist eine effiziente Erschliessung in Zukunft schwierig. Ich denke an eine Stadt Zürich in etwa 40 Jahren mit 500’000 Einwohnern. Wir müssen unbedingt schon jetzt über grosse Würfe nachdenken.
Frank M. Rinderknecht: Für einen grossen Wurf wäre das Wichtigste ein Hinterfragen des Stellungsdenkens. Muss es überhaupt Koexistenz sein? Man sollte die Verkehrsflüsse und Bedürfnisse ganzheitlich betrachten, da beide Systeme als solche an ihre Grenzen stossen. Für mich sind die entscheidenden Stichworte Verschmelzung und Effizienzsteigerung.

Haben Sie eine konkrete Idee, wie dies aussehen könnte?
Rinderknecht: Es müssten neue Verkehrsträger entwickelt werden. Auch muss man sich Gedanken machen, wie der Platzbedarf gesteuert werden kann. Es macht keinen Sinn, dass die grossen Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr, die zu Stosszeiten extrem voll sind, am Abend fast leer herumkurven. Man sollte aber auch bei der Emotionalität ansetzen und die Leute mit innovativen Verkehrsmitteln begeistern. Das «car2go»1 kommt in Deutschland beispielsweise extrem gut an.

«Individuelle Mobilität wird immer ein Ausdruck des persönlichen Lifestyles sein.»

Müsste man auch beim öffentlichen Verkehr vermehrt auf Emotionalität setzen?
Weidmann: Der öffentliche Verkehr ist meiner Meinung nach nicht individualisierbar. Wir müssen ihn genau in die entgegengesetzte Richtung positionieren, hin zu einem sehr einfach nutzbaren Standardprodukt. Eine Emotionalisierung kann woanders stattfinden, nämlich bei der einfacheren Nutzbarkeit des Produktes.
Rinderknecht: Als Vertreter des Individualverkehrs muss ich sagen, dass der öffentliche Verkehr einen neuen Feind hat. Das ist die Automatisierung2. Wenn ich heute mit dem Auto im Stau stehe, nervt mich, dass ich dabei unproduktiv bin. Mit der Automatisierung kann ich arbeiten, schlafen etc. – dieser Vorteil des öffentlichen Verkehrs verliert plötzlich an Bedeutung.

Ulrich Weidmann in seinem Büro an der ETH Hönggerberg.

Hat das Auto als Statussymbol nicht langsam ausgedient?
Rinderknecht: Der Trend beim Autobau geht weg von grösser, schneller, schwerer, tiefer, breiter und lauter. Es gibt Entwicklungen in der Automobilbranche, die früher nicht denkbar gewesen wären. Individuelle Mobilität wird aber genauso wie Kleidung und Schmuck immer ein Ausdruck des persönlichen Lifestyles sein.

«Auf dem richtigen Weg sind wir erst, wenn die allgemeine Erwartung an die Lösungen tiefer wird.»

Herr Weidmann, Sie sagten, dass man mit dem Prinzip Koexistenz die Stadt künftig nicht mehr effizient erschliessen kann. Ist das Auto für Sie überhaupt denkbar als visionäre Option im Stadtverkehr?
Weidmann: Die Verkehrsplanung und Erschliessung in einer urbanen Zone ist sehr anspruchsvoll, da wir immer zu wenig Platz und Zeit haben. Mit Zeit meine ich zum Beispiel das Thema Grünphasen an den Lichtsignalen und wer diese schlussendlich bekommt. In den innersten Teilen der Stadt bringt der öffentliche Verkehr, vor allem spurgeführt, mit Abstand die meisten Personen weiter. In den Vororten stossen wir damit aber an Grenzen, wir können keine mit dem städtischen Angebot vergleichbare Qualität anbieten. Es ist weniger die Frage von entweder oder, sondern vielmehr jene, wer wo seine Stärken und sein Einsatzgebiet hat. Wir müssen beginnen, eine kombinierte Mobilität anzubieten.

Es gibt die plausible These, dass in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer mehr Menschen immer mobiler sein wollen – und sein werden. Stellen wir eine ketzerische Frage: Muss sich überhaupt das Verkehrssystem dem Kundenverhalten anpassen? Oder könnte es auch umgekehrt sein?
Weidmann: Der Mensch passt sich ziemlich stark dem Verkehrssystem an, wenigstens in den Städten. Ein typisches Beispiel: Als man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt das erste Mal vor der Stau- und Parkplatzproblematik stand, sprach man von Verkehrsnot und Verkehrsinfarkt. Inzwischen hat man sich daran gewöhnt. Wenn ich in einer Stadt mit Stau aufwachse, erwarte ich auch nicht, dass ich ohne Probleme mit dem Auto in die Innenstadt fahren kann. Man muss sich also bewusst sein, dass auch die Zeit an Lösungen und Wahrnehmungen mitarbeitet.

Muss der Mensch demzufolge beginnen, auf eine gewisse Mobilität zu verzichten?
Weidmann: Mobilität ist zweifelslos eine Frage der Verzichtsplanung, es gibt nie die maximale Lösung für irgendwen. Auf dem richtigen Weg sind wir erst, wenn die allgemeine Erwartung an die Lösungen tiefer wird.
Rinderknecht: In Bezug auf die Stadt hätte erste Priorität, den Transitverkehr draussen zu halten. Man müsste eine Infrastruktur anbieten, mit der man die Stadt effizient umfahren kann. Was würde passieren, wenn man die Innenstadt ganz für den motorisierten Individualverkehr sperren würde? Stiegen die Leute murrend auf den öffentlichen Verkehr um? Hierfür wäre aber ein funktionierendes Park&Ride Voraussetzung. Oder müsste ich eine neue Mobilitätsform anbieten? Das könnte ja auch ein «Semi Public»-Angebot sein, also eine ganz neue Mobilitätsart.

Was muss man sich denn unter einem solchen «Semi Public»-Angebot vorstellen?
Rinderknecht: Ich habe auf der Grundfläche eines Minis, in dem man zu viert sehr unbequem sitzen würde, ein neues Fortbewegungsmittel entwickelt. Man hat darin dank den Stehsitzen bequem Platz, hat eine Kaffeemaschine, einen Kühlschrank, Konnektivität – ich kann also arbeiten. So animiere ich die Leute, zusammen in ein Fahrzeug zu steigen und damit markant weniger CO2-Ausstoss zu verursachen. Wir stellen uns diesen Verkehrsträger in einem Schwarm vor. Ich kann zwischen den einzelnen Fahrzeugen springen und über eine App weiss ich genau, wer wo durchfährt.

Frank M. Rinderknecht vor seinem Schwarm-Auto «microMAX» in Zumikon.

Haben die grossen Automobilkonzerne diesen zukunftsträchtigen Trend verschlafen?
Rinderknecht: Die Automobilbranche könnte definitiv weiter sein. Aber es fehlt der Aussendruck. Die Entwicklung kommt zögerlich, doch immerhin tut sich etwas.
Wie sehen Sie das in Ihrem Bereich, Herr Weidmann? Hat auch der öffentliche Verkehr Entwicklungsschritte verschlafen?
Weidmann: Im energetischen Bereich wurde nicht wirklich etwas verschlafen. Wir haben die Möglichkeit jede Form von Elektrizität, woher sie auch immer kommt, zu nutzen. Und wir fahren ja ausser mit Autobussen überall elektrisch. Auch Energierückgewinnung hat man immer gemacht. Ich sehe zwei Felder, bei welchen ich nicht glücklich bin. Das erste ist der Bereich Distribution/Verkauf, Ticketing und Kundeninformation. Ich sehe überhaupt keinen Grund, wieso wir mittlerweile zwei flächendeckende Tarifsysteme haben in der Schweiz, also den nationalen Tarif und darüber noch 20 Tarifverbunde. Das zweite Feld ist die Weiterentwicklung der Verkehrssysteme. Hier ist seit langer Zeit konzeptionell nichts mehr passiert. Interessant wäre die Frage, wie die Vorteile des Systems noch besser zum Tragen gebracht werden könnten. Die Bahn hat im Gegensatz zum Auto noch Geschwindigkeitspotential. Oder die Idee mit dem Metro-Tram Zürich, die ich vor einiger Zeit lanciert habe. Das braucht man nicht heute. Aber wir müssen jetzt mit den Überlegungen beginnen, um im Jahr 2050 die Mobilität innerhalb der Stadt und auch im Grossraum Zürich mit einer guten Qualität und Leistungsfähigkeit bewältigen zu können.

Zum Schluss würde uns noch interessieren, was die Systeme öffentlicher Verkehr und Individualverkehr voneinander lernen können.
Rinderknecht: Im Individualverkehr schaut man nur auf die Kunden und will seine Produkte verkaufen, der Rest wird ausgeblendet. Im öffentlichen Verkehr wird der Kunde manchmal vergessen. Wahrscheinlich müssen sich beide Seiten auch ein bisschen auf das andere besinnen. Der öffentliche Verkehr könnte von der Dynamik der Automobilbranche lernen und die Trommel auf der Galeere etwas schneller schlagen.
Weidmann: Vom Individualverkehr könnten wir den Wagemut, die Innovationsfähigkeit und die Geschwindigkeit lernen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass wir in die öffentliche Erwartung/ Verwaltung eingespannt sind und wenn wir etwas realisieren wollen, kommen Fragen von Beteiligung und Partizipation auf. Die Akteure im Individualverkehr könnten etwas lernen bezüglich gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein – ich glaube, das haben wir im öffentlichen Verkehr.

Prof. Ulrich Weidmann

Ist seit 2004 Ordinarius für (öffentliche) Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich. Sein Lehrstuhl befasst sich in der Forschung schwerpunktmässig mit Personenverkehrssystemen, insbesondere in Städten und Agglomerationen, Gütertransportsystemen aber auch Produktionsprozessen.

Frank M. Rinderknecht

Stellt mit seiner Zumiker Firma «Rinspeed» seit über 30 Jahren zukunftsorientierte Konzeptfahrzeuge und Prototypen im Sport- und jüngst auch im Personenwagenbereich her. Mit seinen aussergewöhnlichen und visionären Ideen, die schon seit Längerem ökologisch und nachhaltig ausgerichtet sind, sorgt er am Genfer Autosalon regelmässig für Aufsehen.

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