Wo sich Menschen bewegen, passieren Geschichten. Und wenn sie nicht passieren, werden sie erfunden. Die «KASSETTE. für projekte» und die Buchhandlung am Hottingerplatz forderten in einem Wettbewerb Stadtreisende dazu auf, solche Geschichten und Beobachtungen rund um die Tramlinie 3 festzuhalten. Die prämierten Texte möchten wir hier gerne vorstellen. Wir gratulieren Yvonne Léger herzlich zum zweiten Platz.
Once upon a Time in the West im letzten Tram
Ein Western von Yvonne Léger
Freitagnacht
Albisrieden 00:07
Henry sitzt neben mir im Rollstuhl. Ich schwitze. Beruhige dich, beruhige dich, versuche ich mich zu beruhigen. Mein Herz rast. Alles ist okay. Ihn ins leere Tram zu rollen war kaum ein Problem. Flaches Trittbrett für Mütter und Kinderwagen. Abfahrt in einer Minute. Bitte, liebes Tram, fahr. Es fährt. Bilder steigen hoch.
Ich mit Henry in meinem Ein-Zimmer-Apartment. Als ich den kleinen, niedlichen Revolver auf ihn richtete, starrte er mich konsterniert an. «He Kleine, was soll dieser Unsinn?» «Eine kleine Westernlektion», antwortete ich sanft, und schob die Kassette in den Video-Recorder. Dann, auf dem grossen Bildschirm an der Wand lief mein Lieblingsfilm: Once Upon a Time in the West. Das hätte ihn argwöhnisch machen sollen, aber er starrte nur auf meinen Revolver. Dreimal drückte ich ab.
Krematorium Sihlfeld 00:13
Lese die Titel der Haltestelle. Ob Henry wohl kremiert wird? Das überlasse ich Nora, die an der Endstation auf uns wartet. Eine furchtlose Lady.
Ich hatte nicht damit gerechnet, Henry in diesem Leben nochmals zu begegnen. Das Schicksal wollte es anders. Als ich ihn eintreten sah in die Bar, wo ich meine Freier aufreisse, traf mich beinah der Schlag. Er hatte sich kaum verändert, nur seine Haare waren grau. Als Prostituierte trage ich eine rote Perücke, eine tief ausgeschnittene Seidenbluse, um meinen Po einen Fetzen Stoff. Sein Blick schätzte mich ein. Er erkannte mich nicht. Eine kleine, unbedeutende Nutte. Er offerierte mir Champagner. Ich prostete ihm zu. Meine Hand zitterte. Im Lift presste er mich unerwartet an die Wand. Ich roch seinen Atem, diese Mischung aus Whisky und Henry pur. Mir wurde elend. Ich wünschte, der Lift würde stecken bleiben oder in die Tiefe sausen.
«Wo ist das Bett?», fragte er mich gleich beim Eintreten in die Wohnung. Ich deutete auf den Bildschirm. «Der ersetzt das Bett.» Henry schob mir seine Hand in den Ausschnitt. Ich lächelte ihn an, doch beinah hätte ich laut geschrien, den Verstand verloren, mir die rote Perücke heruntergerissen und mich weinend an seinen Hals geworfen.
Unzählige Male hatte ich mit Henry die Story aus Rache, Gier und Mord angeschaut. Mit Henrys Namensvetter Fonda, Charles Bronson, Jason Robards, Woody Strode, und der umwerfenden Claudia Cardinale. «Ich gleiche ihr, findest du nicht auch?», versuchte ich von Henry ein Kompliment zu bekommen. Henry dachte nicht an Komplimente, schenkte mir stattdessen den Mini-Revolver mit dem perlmutterfarbenen Griff: «Wenn du je in Schwierigkeiten kommst.»
Lochergut 00:17
O Gott. Drei Löcher in Henrys Brust. Zugedeckt mit seinem Regenmantel.
Es ist Henrys eigene Schuld. Elender Don Juan, der mich verführt, über Jahre betrogen und verlassen hat. Nie bin ich darüber hinweggekommen. Ich habe begonnen, mich an Männern zu rächen, locke sie in meine Wohnung, verspreche ihnen eine heisse Zeit im Wilden Westen, lasse meinen Lieblingsstreifen laufen, und verabreiche ihnen Whisky mit Schlaftabletten. Dann plündere ich ihre Brieftaschen. Nur Noten, keine Kreditkarten. Wenn sie benebelt wieder aufwachen, gebe ich mich fürsorglich, helfe ihnen auf die Beine. Die meisten lassen sich widerstandslos nach draussen bugsieren und in den Lift bringen. Nur wenige Male bin ich belästigt worden. Vergessen wir das.
Bezirksgebäude 00:25
Ein junger Mann steigt ins Tram, lässt sich direkt vor uns in den Sitz fallen, und pennt sofort ein.
Bist du noch da, Henry? Gaffe ihn an. Die dunkle Brille ist verrutscht, rücke sie zurecht. Unter dem Regenmantel das blutbefleckte Seidenhemd. Kein Blut auf der mit scharfen Falten gebügelte Kammgarnhose. Teuer, die dunkelbraunen Lederschuhe.
Klusplatz 00:31
Endstation. Gucke nach draussen. Sehe Nora im Schein der Strassenlampen. Der junge Mann ist aufgewacht, will mir behilflich sein. Ich schiebe ihn zur Seite. «Nein, danke, das schaffe ich allein.» Zusammen mit Henry verlasse ich das Tram. Nora kommt uns entgegen in Jeans und Lederjacke. Ich drücke ihr ein Couvert in die Hand. «Mein Lieferwagen steht da oben. Du brauchst nicht mitzukommen.» Ich umarme meinen Henry und flüstere ihm ins Ohr: «Hab dir verziehen. Ich hoffe, du mir auch.»
Über die Autorin
Yvonne Léger lebt in Zürich und arbeitet als Schriftstellerin und Zeichnerin in der Roten Fabrik. Sie schreibt Romane, Gedichte und Balladen. Ihre Texte setzt sie auch zeichnerisch um, am liebsten in Form einer Geheimschrift.«Ob ich nun zeichne oder schreibe, ich arbeite mit der Sehnsucht zusammen. Mit ihr erzähle ich Geschichten. Wirklichkeit und Traumbereich reichen sich die Hand. Vermischt mit Komik, Ironie und Melancholie.»www.yvonne-leger.ch
Platz 1: Rückblitze, ein Text von Karin Schneider
Platz 3 zum ersten: De Dreier, ein Lied von Heini Möckli