Stadtgeschichten auf der Linie 3

Wo sich Menschen bewegen, passieren Geschichten. Und wenn sie nicht passieren, werden sie erfunden. Die «KASSETTE. für projekte» und die Buchhandlung am Hottingerplatz forderten in einem Wettbewerb Stadtreisende dazu auf, solche Geschichten und Beobachtungen rund um die Tramlinie 3 festzuhalten. Die prämierten Texte möchten wir hier gerne vorstellen. Den Anfang macht Karin Schneider, die mit ihrem Text «Rückblitze» den ersten Preis gewinnt. Wir gratulieren herzlich.

Rückblitze

Ein Text von Karin Schneider

Albisrieden: Jeder Schritt tötet eine Schnecke. Ich habe keine Wahl. Das ist mein Weg und ich kann den Boden nicht sehen.
Fellenbergstrasse: Neben mir der Reifen eines Autos. Ich liege am Boden. Mir ist schlecht. Meine erste Zigarette. Es folgen tausende.
Siemens: Sommer, Musik, Tangotanzen. Ich bin verliebt.
Hubertus: Warten. Tram oder Bus, immer bin ich auf der falschen Seite.
Krematorium Sihlfeld: Unzählige Namen auf den Grabsteinen. Ich bin schwanger. Nur noch wenige Tage. Doch welcher Name?
Albisriederplatz: Rauhes Ausland und die Härteprobe für jeden Autofahrschüler. Besser für die Welt wenn ich es gar nicht probiere.
Zypressenstrasse: Die andere Wohnung meines Vaters. Bei uns wohnt jetzt ein argentinisches Tanzpaar.
Lochergut: Das Hochhaus. Rumhängen mit Cliquen, rauchen. Meine Eltern haben keine Ahnung.
Kalkbreite: Alles ist wunderbar unparfumiert. Im Ohr gutturales Geröhre. Mein Kopf ist verdreht.
Bezirksgebäude: Sommer, trunken, der Tag, der Flohmarkt. Unendlich viel Zeit.
Stauffacher: «Wo sind die Kinder?» Sie sitzen neben mir. Meine Mutter hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Sihlpost: Wie gerne ich hier wohne, im Haus mit den gemalten Flaschen an der Fassade. Das Chaos in unserer Küche ist stadtbekannt.
Löwenplatz: Hinter den Jungs her, die Jungs hinter uns her. Alle hoffen auf ein Passfoto. Schwarzweiss, mit Schwefelgestank.
Bahnhofplatz: Kein schöner Ort. Zahnlos. Verschlagen. In Lumpen gewickelt. Und diese Stufen; hoch, höher, in allen Sprachen.
Central: Warten, es regnet, schon hundertmal.
Neumarkt: Aufbau im Theater. Ich möchte Schrauben drehen, aber ständig wird mir der Akkuschrauber weggenommen. Ich bin eine Frau.
Kunsthaus: Hitzige Worte darüber, ob Kunst ins Kunsthaus oder in die Wohlgroth gehört. Plötzlich ist Hofmannsthal im Spiel. Ich komme nicht mehr draus.
Hottingerplatz: Mann hat mich durch die Bäckerstochter ersetzt. Muss ich gehen? Soll ich bleiben?
Römerhof: Reiche Schwererziehbare. Mein erster Lehrauftrag. Ich leide und träume von einem Bolzenschussgerät.
Hölderlinstrasse: Der abwärtsschauende Hund, der verrenkte Schwan. Ich mag nicht mehr.
Klusplatz: Der Metzger im Nirgendwo. Endstation.

Über die Autorin

Karin Schneider, 41 Jahre alt, ausgebildete Illustratorin und Werklehrerin, wohnt in Zürich und tanzt und unterrichet argentinischen Tango. In der Stadt ist sie wahlweise mit dem öffentlichen Verkehr oder dem Fahrrad unterwegs. Die Linie 3 hat seit jeher immer wieder ihren Weg gekreuzt.

Platz 2: Once upon a Time in the West im letzten Tram, ein Western von Yvonne Léger

Platz 3 zum ersten: De Dreier, ein Lied von Heini Möckli

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