So multikulturell wie Zürich, so vielfältig sind die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ): Menschen aus rund 50 Nationen arbeiten unter dem blau-weissen Dach. Vier dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einer anderen Kultur gross geworden sind, schildern ihren einzigartigen Weg.
Es ist ein trüber Nebeltag, so trist, dass man sich in Wolldecken gehüllt mit einem Buch in das warme Wohnzimmer zurückziehen möchte. Der umtriebige Bucheggplatz vermag diesen Wunsch nicht zu verdrängen − und doch hellt sich die Stimmung augenblicklich auf, als wir unsere Protagonisten zum Fotoshooting treffen. Sie kennen sich nicht, gleichwohl ist die Begrüssung herzlich, die Vorstellungsrunde unkompliziert und alle sind sofort miteinander in ein anregendes Gespräch vertieft.
Nadya Züger, José Gastón Guzmán, Alice Krapf und Yana Yankova haben ihre Kindheit in einem anderen Land verbracht und sind im Lauf ihres Lebens auf höchst unterschiedliche Art und Weise in die Schweiz und zu den VBZ gekommen. Hier in Zürich hat inzwischen jede dritte Einwohnerin und jeder dritte Einwohner einen ausländischen Pass. Diese kulturelle Vielfalt spiegelt sich nicht nur in der Stadt, sondern auch bei deren Verkehrsbetrieben: 2313 Menschen aus rund 50 Nationen sind für das «blau-weisse» Unternehmen tätig und helfen mit, den VBZ eine weltoffene Identität zu geben. Alle diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ihre ureigene, mal zauber- und mal schicksalhafte Geschichte erlebt. Nadya, Gastón, Alice und Yana haben sie uns erzählt.
Vom klimatisierten Auto zum ÖV-Fan
«Der Umzug von St. Petersburg nach Texas war ein Kontrastprogramm. Im kalt-feuchten Sumpfgebiet, auf dem das frühere Leningrad gebaut und wo meine ganze Verwandtschaft zu Hause ist, war ich meine ersten Lebensjahre oft kränklich. Das hat sich danach bei den Temperaturen um die 40 Grad Celsius schlagartig geändert. Dafür gab es in Texas kein Kulturangebot für Kinder. Der Besuch von Kindertheatern, Museen, Opern war fester Bestandteil meiner Kindheit in Russland und fehlte insbesondere meiner Mutter sehr. Ich fand es toll in Texas, auch als ich in College Station gewohnt habe. College Station ist die Heimat der Texas A&M University und mit 45 000 Studenten einer der grossen Campus in Amerika. Zu dieser Zeit war ich dankbar, ein Auto mit einer Klimaanlage zu haben, um von einem Gebäude zum anderen zu gelangen. Die Hitze, die dort herrscht, wäre sonst unerträglich gewesen. Seit meiner Anstellung bei den SBB von 2012 bis 2017 bin ich ein totaler ÖV-Fan und nutze für meine Reisen und Ausflüge in der Schweiz nur noch Züge, Busse und selbstverständlich Trams. Bei einem Austauschsemester in Deutschland habe ich meinen heutigen Ehemann, einen Schweizer, kennen gelernt und bin ihm in seine Heimat gefolgt. Ich gebe es zu: Damals habe ich die Schweiz noch mit Schweden verwechselt. Wenn ich meiner Familie erzähle, dass das Velo mein Hauptverkehrsmittel ist, um zur Arbeit zu kommen, sind sie erstaunt. In den USA und in Russland ist dies völlig undenkbar. Teil einer direkten Demokratie zu sein, empfinde ich als unglaubliches Privileg – und es macht mich sehr stolz.»
Nadya Züger, 29 Jahre, Projektleiterin Infrastruktur aus Russland und den USA, bei den VBZ seit 2017.
Die Heimat in der Schweiz gefunden
«Für mich ist es unvorstellbar, meine Mutter in ein Altersheim zu geben. Solange es geht, kümmere ich mich um sie. Hier unterscheide ich mich vielleicht von einem waschechten Schweizer. Meine Mutter war damals der Grund, Chile zu verlassen. Sie hatte sich – während der Diktatur in den 70er Jahren – als Angestellte in einer Wäscherei gewerkschaftlich engagiert, weswegen sie die Arbeitsstelle verlor und politisch verfolgt wurde. Zu dieser Zeit kannten wir die Schweiz nicht. Wir wussten nur, dass sich das Land inmitten von Europa befindet, geschützt von Bergen und anderen Ländern. Es ist unglaublich, wie gut hier alles organisiert ist. Ich erinnere mich, dass wir an einem Samstag über Argentinien in der Schweiz ankamen. Bereits am Montag waren ich und meine vier Brüder in der Deutschschule. Trotzdem reichten meine Sprachkenntnisse nicht, um eine Lehrstelle zu finden. Zum Glück hatte ich in Chile bereits Werkzeugmacher studiert, sodass ich in der Metallindustrie und vor einem Jahr bei den VBZ eine gute Anstellung fand. Die Schweiz ist meine Heimat, hier fühle ich mich zu Hause. Seitdem ich Chile verlassen habe, bin ich nur zweimal zurückgekehrt. Viele Chilenen leben nur im Heute und denken kaum an morgen, an die Zukunft. Das ist nicht mein Stil, ich plane mein Leben so gut es geht. Zum Beispiel meine dritte Reise in das Land meiner Kindheit. 2021 steht ein fünfwöchiges Chile-Abenteuer mit meinen Söhnen und deren Partnerinnen auf dem Programm. Dann werde ich zum ersten Mal in meinem Leben die weltbekannten Salzseen besuchen.»
José Gastón Guzmán, 57 Jahre, Allrounder Geldlogistik aus Chile, bei den VBZ seit 1 Jahr.
In Zürich den Traumberuf gelernt
«Als ich 2001 zum ersten Mal eine Mirage aus dem Tramdepot Hard fuhr, habe ich realisiert: ‹Wow, ich habe es geschafft!› Seit 1989 wohne ich in der Schweiz, von da an wollte ich Trampilotin werden. Doch damals konnte ich kein Wort Deutsch. Schwierig also schien mein Berufswunsch, aber nichts ist unmöglich. Nach einem dreimonatigen Deutschkurs habe ich einen Lehrgang in Schweizerdeutsch angehängt und Autofahren gelernt. In der Schweiz bin ich dank meines Mannes. Ich habe ihn an einem Weihnachtstag an der Copacabana kennen gelernt, er ist quasi ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Den Kontakt zu meiner Familie in Brasilien habe ich anfangs sehr vermisst und Telefonieren war damals teuer. Aufgewachsen bin ich im Bundesstaat Minas Gerais, einer ländlichen Gegend Brasiliens, auf einem Gutsbetrieb ohne Strom. Den Schulweg von sieben Kilometern nahm ich zweimal täglich unter die Füsse. Meine Eltern waren Selbstversorger. Ich erinnere mich noch gut an die köstlichen Aromen unserer sonnengereiften Früchte. Kein Vergleich zum Geschmack, wie er vor 30 Jahren bei Früchten in der Schweiz anzutreffen war. Nach Rio kam ich erst mit 23 Jahren wegen der Arbeit. Dank meiner Stelle als Filialleiterin in einer Papeterie konnte ich den Lebensunterhalt für meine Tochter, meine Mutter und mich bestreiten. Selbstverständlich habe ich in Rio auch einmal den weltbekannten Karneval besucht. Doch das war mir zu viel: zu viele Menschen, zu viel Alkohol, zu viel Lärm. Später habe ich die Stadt während dieser Zeit immer gemieden. Ich habe Glück: Noch nie wurde ich in der Schweiz diskriminiert. Das hat mir geholfen, zu meinem Traumberuf zu kommen. Heute fahre ich Leute aus der ganzen Welt von A nach B und bin den ganzen Tag in Bewegung.»
Alice Krapf, 56 Jahre, Trampilotin aus Brasilien, bei den VBZ seit 18 Jahren.
Aromatisches Gemüse aus Bulgarien
«Dass ich heute in der Schweiz wohne, ist Zufall. Ich könnte stattdessen auch in Australien oder Saudi-Arabien leben. Bereits mit 19 Jahren habe ich meine Heimatstadt Sofia verlassen, um in Berlin Biologie zu studieren. In meiner Diplomarbeit habe ich mich mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen auf Seen auseinandergesetzt. Als ich diese Arbeit weiter vertiefen wollte, musste ich mich entscheiden. Vom Zürichsee waren bereits viele Daten vorhanden, und ich hatte eine gute Grundlage für meine weiterführenden Untersuchungen. Das und die Liebe zu den Bergen und Seen haben dazu geführt, dass Zürich das Rennen gemacht hat. Mir gefällt das Leben hier: Alles ist geordnet, ich fühle mich sicher. In Bulgarien konnte die Administration früher etwas bürokratisch sein. Als das Land 2007 in die EU eintrat, wurde es organisierter. Was ich aus meiner Heimat in der Schweiz am meisten vermisse, sind das stabile Wetter im Sommer und die bulgarische Küche. Insbesondere das Gemüse und die Früchte sind in meiner Heimat viel aromatischer. Und weshalb ich über die Biologie 2018 bei den VBZ gelandet bin? Bisher habe ich viel für die Wissenschaft gearbeitet. Nun möchte ich meine Kenntnisse im Umgang mit grossen Datenmengen für eine praktische Anwendung im Alltag nutzen. Was ist da sinnvoller als der öffentliche Verkehr?»
Yana Yankova, 34 Jahre, Data Analystin aus Bulgarien, bei den VBZ seit 1 Jahr.