«Wo wir fahren, lebt Zürich»: Unser Versprechen gilt in guten Zeiten und auch in diesen. Zürich lebt, auch wenn es gerade etwas aus dem Takt gekommen ist. Darüber, wie es unserer Stadt und ihnen so geht, erzählen Zürcherinnen und Zürcher gemeinsam mit uns in der Serie #sogahtsZüri. Heute geht es um die Männer und Frauen ganz vorne in Tram und Bus. Trampilotin Lidija Radosavljevic erzählt, wie sie Zürich erlebt und was Corona für ihre Familie bedeutet.
«Ich bin echt froh, kann ich raus und arbeiten.» Lidija Radosavljevic ist gerne Trampilotin. Auch jetzt, während der Pandemie. Auf die Frage, wie sie die Stimmung derzeit wahrnehme, senkt sie trotzdem die Stimme und meint nachdenklich: «Bedrückend. Es ist sehr bedrückend.» Geschlossene Geschäfte überall und es sei zu beobachten, wie die Menschen einander ausweichen. Auch das Tram sei oft leer, jedenfalls am frühen Morgen und abends. Nur die wenigen Tramlinien, die entlang der Spitäler fahren, die seien noch gut genutzt. Der 9er also, auch der 10er, der 11er und der 14er.
Das alles lässt nicht unberührt, ebenso wenig die geschlossene Scheibe: «Ich fühle mich ein wenig abgetrennt von der Welt. Kontakt zu den Fahrgästen gibt es kaum noch.» Schwierig sei das vor allem, wenn jemand einsteigt, der Hilfe braucht. Eine Person im Rollstuhl etwa. «Man möchte helfen, aber was ist, wenn ich diesen Menschen vielleicht anstecke?» Schliesslich kann sich das Fahrpersonal im Führerstand trotz allem nicht komplett abschotten. Zwischendurch muss man auch mal aussteigen. «Bei einer Türstörung etwa, da fasse ich doch auch alles an», überlegt sie. «Klar, ich desinfiziere meine Hände anschliessend, aber allem komplett aus dem Weg zu gehen ist schwierig in unserem Beruf.» Auch im Miteinander mit den Arbeitskollegen wird die Veränderung spürbar: «Wir pflegen eigentlich einen sehr herzlichen Umgang miteinander. Jetzt versuchen wir, den Abstand zu wahren. Unweigerlich kommt man einander im Gespräch aber unbewusst wieder näher, merkt es, korrigiert es wieder.»
Direkt ins Badezimmer und einmal alles waschen
Die Wagenführerin, die seit 11 Jahren im Fahrdienst ist, verhält sich in diesen Tagen sehr bewusst. Trotzdem fällt ihr – als offenkundiger Familienmensch – die Situation schwer. Sie macht sich ständig Gedanken. Um ihre Eltern, denen sie eingeimpft hat, zu Hause zu bleiben, «auch wenn sie sehr traurig sind und kaum fassen können, dass es kein Zusammensein der Familie an Ostern gibt. Kein gemeinsames Essen, keine Kirche». Sie macht sich auch Gedanken um die Arbeitskolleginnen und –kollegen. Um den, der doch schon vorher ein Problem mit der Lunge hatte und zu Hause bleiben muss. Oder um jenen, der Blutverdünner einnehmen muss: «All diese Menschen sind meine zweite Familie. Ich hoffe, es geht ihnen gut.» Vor allem aber macht sie sich Gedanken um ihre 7-jährige Tochter, bei welcher – gesundheitlich bedingt – «erhöhte Wachsamkeit geboten sei», wie es im Fachjargon heisst.
«Ich gehe direkt ins Badezimmer, schmeisse alle Kleider in die Wäsche, wasche Hände und Gesicht mit Seife. Auch der Julia habe ich das beigebracht. Nach jedem Kellergang Hände einseifen! Die Türklinken schrubbe mit verdünntem Essig, Desinfektionsmittel bekommt man ja kaum noch. Es ist schon ein bisschen ein Stress»: Der Feierabend der jungen Mutter klingt alles andere als entspannt. Bis vor kurzem war sie zu vollzeitlich im Schichtdienst angestellt, damit sich ihr Mann mit einer Weiterbildung beruflich verbessern konnte. Und Weiterbildungen sind bekanntlich teuer. Erst seit Anfang Jahr ist sie halbtags daheim. «Zum Glück», seufzt sie, «das ginge sonst nicht». Zuvor hatte ihr nämlich die gesamte Familie den Rücken bei der Betreuung gestärkt: Eltern, Schwiegereltern, Tanten… Undenkbar, in dieser Situation.
Alles streng nach Lehrplan
Obschon ihr Mann – Homeoffice sei Dank – im Moment zu Hause bleibt, verlangt vor allem das Homeschooling der Familie viel ab. «Julia sagt selber, sie wolle wieder in die Schule», lacht die 37-jährige. Weil es Mama nämlich wichtig ist, dass die Juniorin schulisch nicht ins Hintertreffen gerät, richtet sie viel mehr Aufmerksamkeit auf das Mädchen, als es in einem Schulzimmer mit 23 Kids möglich wäre. «Die erste Woche ging alles noch ein bisschen chaotisch zu und her», räumt die Lehrerin wider Willen ein. Aber dann hat sie den Tag rigoros durchstrukturiert. Seither stellt die kleine Julia ihren Wecker auf acht Uhr in der Früh, und nach dem Frühstück wird eins ums andere in Angriff genommen: Mathe, Deutsch, Zeichnen… «Ich habe sogar eine Ablage eingerichtet, damit ich weiss, was wir schon durchgeackert haben». Auch wenn der Dienst der Trampilotin frühestens um 10 Uhr beginnt, ist das Programm ohne Disziplin nicht zu schaffen. Die Schichten dauern schon mal bis ein Uhr nachts, auch am Wochenende gibt es Einsätze. «Man hat mich schon mit einem General verglichen», schmunzelt Radosavljevic, «aber es geht nicht anders.»
Für das Gemüt gibt’s obendrein auch jeden Tag eine gute Portion Waldspaziergang für die Familie, denn «wir wohnen zum Glück weit ab vom Schuss, auf dem Land», verrät die Wagenführerin.
Am schlimmsten wäre ein kompletter Lockdown
Gerade weil dieses Auftanken so wichtig für die Familie ist, geht es der Trampilotin gehörig gegen den Strich, wenn sie Leute sieht, die sich offensichtlich nicht an die Auflagen des Bundesamts für Gesundheit halten. «Ich liebe meinen Job, und ich fahre sehr gerne Menschen von A nach B. Auch jetzt. All jene, die arbeiten müssen, im Spital oder im Verkauf. Aber die, die nicht raus müssten und trotzdem unterwegs sind, die machen mich traurig. Denen würde ich am liebsten zurufen: So reisst euch doch zusammen Wir hoffen doch alle, dass es nicht zu einem kompletten Lockdown kommt. Das wäre ja noch viel schlimmer. Dann könnten wir ja gar nicht mehr raus, auch die Kinder nicht. Das wäre für die Psyche gar nicht gut.»
Und wenn der Schrecken dann endlich vorbei ist? «Dann freue ich mich am meisten, wieder mal schwimmen gehen zu können. Das vermisse ich sehr». Und noch etwas hat sie in der aktuellen Situation mehr als je zuvor schätzen gelernt: den Zusammenhalt mit der Familie. Die wertvolle Zeit mit denen, die ihr am Herzen liegen. «Ich hoffe, die Menschen werden auch in Zukunft vermehrt einen Gang zurückschalten und nicht mehr so oft herumhetzen und –stressen. Gerade auch im ÖV. Wir haben doch so ein gutes ÖV-System in der Schweiz. Vielleicht wissen wir wieder ein bisschen mehr zu würdigen, wie gut bei uns das meiste klappt, anstatt sich wegen Kleinigkeiten zu ärgern. Die Zeit, die wir für uns und andere haben, ist wertvoll. Egal, ob es sich um fünf Minuten handelt, eine Stunde oder einen Tag.»
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