Die Lemming-Stampede am Stauffacher
Vor vielen Jahren verbrachten ein Freund von mir und ich etliche Stunden mit mehr oder minder guten Computerspielen. Heute habe ich keine Zeit mehr für Derartiges. Nur während den kurzen Pausen in der Endhaltestelle malträtiere ich hin und wieder mein Smartphone mit kleinen Spielen, um wieder etwas herunter zu kommen. Mein Freund hatte damals die Angewohnheit, mir manchmal neue Spiele zu zeigen, von denen er, aus was für einem Grund auch immer, fasziniert war. Eines dieser Spiele nannte sich «Lemmings». Er spielte das mit einer nahezu an Sucht erinnernden Begeisterung. Auf den Punkt reduziert ging es bei diesem Spiel darum, eine Horde von sehr pixeligen Lemmingen von einem Punkt in einem Labyrinth zu einem anderen zu bringen, möglichst wenige von ihnen zu verlieren und dabei auch noch eine vorgegebene Zeitgrenze nicht zu überschreiten. Mir war es zu blöd, diese von jeglicher Intelligenz befreiten Pixel-Lemminge durch die Gegend zu lotsen. Lediglich, wenn sie sich bei nicht Erreichen des vorgegebenen Ziels selber in die Luft sprengten, bin ich manchmal zusammengebrochen vor Lachen, das sah auf dem Bildschirm einfach zu komisch aus!
Nun hat sich dieses Spiel aber eines Prinzips bedient, welches ich heute immer wieder beobachten kann: dem Prinzip des Herdentriebes. Nicht nur diese pixeligen Figuren auf dem Bildschirm damals, sondern auch zahlreiche Gemeinschaften in der Tierwelt folgen diesem Prinzip: ein mehr oder minder intelligentes Individuum läuft los und alle anderen hinterher, egal ob und welchen Sinn das haben könnte. Das Wesen Mensch bildet hier keine Ausnahme, erst recht nicht, wenn ich dieses Wesen im Umfeld mit Namen «Öffentlicher Verkehr» betrachte. Das, was ich dort jeden Tag immer und immer wieder sehe, erinnert mich stark an jenes alte Computerspiel «Lemmings». Wenn es aber darum geht, wie Sie sich im Bereich von Haltestellen auf unsere Fahrzeuge zu und vor allem in sie hinein bewegen, dann muss ich mich doch ab und an fragen, ob Sie damals nicht selbst «Lemmings» gespielt haben und davon so begeistert waren wie mein Freund damals.
Der kürzeste Weg dauert manchmal etwas länger
Nun muss ich zugeben: Bevor ich Tram-Pilot wurde, habe ich mich nicht sonderlich anders verhalten als Sie. Auch ich habe die Tür genommen, die in kürzester Reichweite lag. Zum Aussteigen habe ich mich, noch bevor das Fahrzeug angehalten hat, entweder ganz nach vorne oder hinten begeben, um den Weg zum Endziel so weit wie möglich zu verkürzen. Ich habe mich, ganz wie Sie, von anderen Fahrgästen und auf dem Perron wartenden Menschen zusammenpressen lassen, nur um die eine Tür meiner Wahl zu erreichen – und dabei vollkommen ignoriert, dass zahlreiche andere Türen ungenutzt blieben, niemand an anderen Türen ein- oder aussteigen wollte. In der Hauptverkehrszeit tritt dieses Phänomen nur an schwach frequentierten Haltestellen auf, ansonsten will am Anfang oder Ende eines Arbeitstages am Limmatplatz, Stauffacher oder Bahnhofplatz jeder einfach nur irgendwie in Tram oder Bus einsteigen. Hauptsache nicht als letzte Person, sonst wird man während der Fahrt an die geschlossene Tür gepresst und kann sich nur schlecht festhalten. Ich denke, Sie wissen genau, was ich hier beschreibe.
Türen, die sich vielleicht nie wieder öffnen
Während die Hauptverkehrszeit immer ein klein wenig wie eine Art von nationalem Ausnahmezustand anmutet, so ist die «normale» Zeit aber nicht frei von mancherlei Absurdität, wenn es um das effektive Betreten oder Verlassen eines Trams oder eines Busses geht. Wenn am Stauffacher viele Menschen auf mich warten, dann öffne ich im Tram alle Türen und halte sogar recht oft alle Türen für längere Zeit geöffnet, damit sich der Ansturm von Ihnen, werte Fahrgäste, ein wenig besser verteilt. Leider funktioniert das nicht oft, denn die meisten von Ihnen sehen nur eine Tür (meistens die letzte oder die erste) und dann müssen Sie da unbedingt rein, weil diese sich ja gleich auf immer und ewig verschliessen und nie wieder öffnen wird. Manchmal kommen mir die dann zu beobachtenden Szenen wie ein Sturm der gesamten Tierwelt auf die Arche Noah vor: Wer es nicht an Bord schafft, ertrinkt in der Sintflut. Und das alles, obwohl in drei bis fünf Minuten schon die nächste Arche Noah kommt und sich manchmal sogar mehrere Archen mit gleicher Liniennummer aneinander reihen. Da fährt dann schon mal ein wie eine Presswurst gestopftes Tram der Linie 4, 13 oder 17 durch Zürich, direkt gefolgt von einem nahezu leeren Tram der Linie 4, 13 oder 17. Aber Sie haben nur diese eine Tür gesehen und nicht den leeren 17er, der direkt hinter dem zugepressten 17er bereits auf Sie wartet…
Die Arche ist bereit zum Ablegen
Ein besonders schönes Beispiel für den Herdentrieb lässt sich immer wieder an Stauffacher und Milchbuck beobachten. Was hier manchmal über die Bühne des Lebens rollt, kommt einer waschechten «Stampede» gleich. Wenn an diesen Haltestellen das Anschlussprinzip wirkt, dann fährt zunächst einmal ein Tram einer bestimmten Linie ein. Kurz darauf folgt ein Tram der anderen Linie, welches einen Anschlussbezug zu dem bereits in der Haltestelle stehenden hat.
Nun können Sie umsteigen.
Oder aber Sie können sich gegenseitig überrollen, was meinen Beobachtungen nach weitaus häufiger passiert. Denken Sie mal über Folgendes nach:
Sie sind am Stauffacher mit der 14 eingetrudelt und wollen auf die 2 umsteigen (das geht aber auch mit den anderen Linien, die dort halten…). Sie verlassen die 14 und in über 90 Prozent der Fälle bleiben Sie meistens dort stehen, wo Sie gerade das Tram verlassen haben: Auf gleicher Höhe mit dem Tram der Linie 14. Aber die 2, die ein klein wenig später eintrifft, hält hinter der 14, also einen kurzen Fussweg entfernt. Anstatt nach Verlassen der 14 in Ruhe und vor allem nicht dicht gedrängt gemütlich über das Perron der zu erwartenden 2 entgegen zu gehen, bleiben Sie einfach stehen. Nun fährt die 2 ein. Die darin befindlichen Fahrgäste sind in Panik! Die befürchten alle, dass die Arche der Linie 14 ohne sie weg schwimmen könnte, sie in der Sintflut ertrinken müssten. Also pressen diese sich – meistens nur durch die erste Tür der Linie 2 – wie von der Tarantel gebissen aus dem Tram heraus. Manchmal sieht das aus, als hätte irgend jemand eine feine Nadel in jene bereits erwähnte überprall gefüllte Presswurst gedrückt – kein erbaulicher Anblick. Da mutiert der Kinderwagen zum Kampfpanzer und die Gehhilfe zum Sturmgewehr! Sie aber, die Sie da noch bei der 14 stehen, sehen die 2 – weniger die daraus hervor quellende Fahrgastmasse – und setzen sich erst jetzt in Bewegung, mitten hinein in die Horde der Germanen, die danach trachten, die Legionen des Publius Quinctilius Varus der Linie 14 zu überrennen (was ihnen nachweislich in der «Varus-Schlacht» gelungen ist). Wie das mit historischen Schlachten so ist, konzentriert sich das Geschehen oft auf einen kleinen Punkt in einem weitläufigen Feld: den kleinen Bereich zwischen Heck der 14 und Führerstand der 2. Noch nicht einmal jetzt kommt der Grossteil von Ihnen auf die Idee, trotz der grosszügigen Gestaltung des Stauffachers das Gemetzel zu umgehen. Also umklammern Sie ihre Hauptwaffe (= Ihr Smartphone) und werfen sich todesmutig den Germanen der Linie 2 entgegen…
Hässliche Szenen spielen sich dann zuweilen ab, sehr hässliche Szenen! Das erinnert mich manchmal an die Ausschreitungen zwischen den Fans der namhaften Fussballclubs, wenn Zürich einmal mehr als Austragungsort einer Schlacht auf dem Plan steht!
Ich habe damals tausende von jenen digitalen «Lebewesen» dort hin gebracht, wo sie hin gehörten, habe ihnen das Denken und zielgerichtete Handeln abgenommen. Ich hätte den falschen Beruf gewählt, müsste ich das heute auch bei echten Lebewesen machen (aber wir vom Fahrdienst machen das eben doch immer noch recht häufig, damit es zu keinem Unfall kommt. Manchmal wird uns das gedankt, manchmal eben auch nicht…). Echte Lemminge mag ich sehr. Das Computerspiel fand ich aber bereits damals saublöd.