Im Rahmen der VBZ-Netzentwicklungsstrategie 2040 und des Zukunftsbilds 2050 sollen die ÖV-Zentren Altstetten und Oerlikon gestärkt und zugleich die Innenstadt entlastet werden. Als Begleitlektüre steuern wir drei persönlich gefärbte Flaneurs-Berichte bei, welche die verkehrstechnische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisieren. Teil 1: Das Central.
Das «Dörfli» war einst nichts weniger als unsere Weltstadt.
Das klingt nach einem Paradox, womöglich war es sogar eines – aber abgesehen davon eben auch die reine Wahrheit!
Mit «Dörfli», dies zur Klärung, ist Zürichs schmucke Altstadt gemeint, die sich offiziell auf Nieder- und Oberdorf aufteilt. Etwas schwieriger wirds bei der Definition des Begriffs «einst»; wahrscheinlich trifft es die Zeitspanne «Ende der 1970er bis anfangs 1990er-Jahre» ganz gut. Wir – eine lebenshungrige, verschworene «Männergruppe» (das klang irgendwie imposant) – wurden auf diesen faszinierenden Streifzügen durch die City nämlich von spätpubertären Teenagern zu Jugendlichen und schliesslich zu jungen Erwachsenen.
Manchmal begannen die quasi-rituellen Erkundungstouren beim Bellevue. Deutlich häufiger jedoch wählten wir das Central als Ausgangspunkt unserer Verlustierungen. Die wir zu Beginn, also in der Teenie-Phase, vor allem tagsüber aufsuchten; im Laufe der Jahre waren wir dann immer öfters auch abends und nachts unterwegs.
Damit wieder zum Startpunkt Central. Dafür gab es natürlich Gründe. Ausgezeichnete Gründe! Spontan spuckt die Erinnerung grad diese zehn hier aus, doch es waren mindestens doppelt so viele – allesamt vom Tramausstieg in maximal zehn Gehminuten zu erreichen.
1. Record Store, Seilergraben. Einer der besten und grössten Plattenläden der Stadt, hatte Neuheiten und Raritäten zu fairen Preisen. Zudem verfügte er über einen Getränkeautomaten und eine der legendären «Phoenix»-Tischspielkonsole, wo die fingerfertigsten Vertreter unserer Clique jahrelang die ersten fünf Plätze der Punktebesten belegten.
2. Johanniter, Niederdorfstrasse. Eine charmante Chnelle, in der es bis 2 Uhr morgens warme Klassiker wie Rahmschnitzel mit Nüdeli oder Cordon-Bleu mit Pommes gab … und ab einem gewissen Alter Tequila-Shots zur Verdauung. Wichtig: Die Toiletten waren oben offen – so hätte man im Ernstfall einen Kollegen, der es wegen schwerer Betrunkenheit nicht mehr selbst raus geschafft hätte, durchs Reinklettern befreien können (was bei uns aber glaubs nie oder höchstens ein-, zweimal nötig war; siehe dazu auch Punkt 3).
3. Caypso-Grill, Niederdorfstrasse. Das «Calypso» war ein Stripschuppen, mit nackigen Frauen, die an Stangen tanzten. Erst kamen wir da altersmässig nicht rein, und als das Alter keine Barriere mehr darstellte, wollten wir da nicht gar nicht mehr rein (wir waren eben anständige Jungs). Wenige Meter nebenan aber waren wir Stammgäste – da war nämlich der «Calypso»-Grill, und da gabs nebst Hotdogs, Hamburgern oder Bratwürsten auch das mit Abstand köstlichste Chäschüeli unser dörflichen Weltstadt.
4. Commihalle, Stampfenbachstrasse: Sozusagen das ordinäre Pendant zum berühmten «Commercio» beim Stadelhofen – es war unschick und sehr laut, es gab riesige Töpfe mit oft verklebten Spaghetti und vier bis fünf verschiedenen Saucen (davon keine wirklich gut), aber die Preise waren günstig, man bekam auch als 20-köpfige Gruppe einen Tisch – und alte Menschen verirrten sich niemals hier rein.
5. Marcel Scheiner, Niederdorfstrasse. DER Jeansladen für die etwas weniger Coolen. Dafür bekam man hier drei Stück «Rüebli»-Jeans mit weissen Kunstlederstreifen, derweil die richtig Coolen fürs selbe Geld gerade mal eine Levi’s 501 posten konnten.
6. Kon-Tiki, Niederdorfstrasse. Die älteste Tiki-Bar Europas, sie wurde 1955 eröffnet, als dieser polynesische Popkunststil auf unserem Kontinent noch nahezu unbekannt war. Im Lokal fanden tolle, meist schräge Gitarren-Konzerte statt, und im oberen Stock offerierte die lange und im Sommer offene Fensterfront einen verstohlenen Blick auf die holde Weiblichkeit, die in High-Heels über die Pflastersteine der Niederdorfstrasse stöckelte.
7. Malatesta, Hirschenplatz. Diese nachtschwarze und immerzu dick rauchgeschwängerte Bar war die konspirative Stammbeiz der linken Zürcher Halbweltfiguren. Das «Mala» zu betreten, kam stets einer Art Mutprobe gleich. Und wenn man dann drinnen nicht bloss ignoriert, sondern gar noch mit einem blöden Spruch angemacht wurde, war dies ein unvergleichliches Triumphgefühl.
8. The Entertainer, Stüssihofstatt. Ein musikalisch mit Folk, Funk, Punk, Wave und später gar frühem Techno bespielter und im Do-it-yourself-Style gestalteter Nachtclub mit Billardtisch und Knutschnischen. Der Alkohol wurde selbst mitgebracht, Gläser, Eis und Softgetränke gabs an der Bar, das Publikum war gemischt und entspannt.
9. Les Videos, Zähringerstrasse. Als sich die VHS-Kassette durchsetze und das Homekino salonfähig wurde, war dieses Filmarchiv mit Ausleihe an der Zähringerstrasse, schräg gegenüber des Kino Alba selig, der Garten Eden für jeden cinéphilen Menschen dieser Stadt.
10. Piano-Bar Hotel Central, Central. Und dann gab es die Abende, wo man statt mit vielen Jungs lieber nur mit einem Mädchen zusammen sein wollte. Und natürlich musste diesem Mädchen etwas Besonderes, geboten werden. Also führte man das Mädchen in die damals edelste Piano-Bar der Stadt, im Hotel Central. Die Musik war cheesy jazzig, der genippte Cocktail verschlang das halbe Mittagessenbudget der Folgewoche (und die Salznüsschen wurden auch noch extra verrechnet!), und wenn man mal etwas weiterging als blosses Händchenhalten, wurde man von den anderen Gästen bald mit bösen Blicken getadelt. Dennoch war das irgendwie grossartig, weil so «erwachsen», vor allem so mondän.
Wie das Central zum «Zentrum» wurde
Und mondän, das passte in diesen 1980er-Jahren als Charakterisierung prima zum Central. Nicht wenige Zürcherinnen und Zürcher betrachteten diesen Platz, nomen est omen, gar als heimliches Zentrum der Stadt, zumindest was den Verkehr anbelangt. Auch wenn diese Einschätzung niemals behördlich beglaubigt wurde, völlig falsch war sie wohl kaum. Durch die Verlängerung des Limmatquais (1855-1859) sowie den Bau der Bahnhofsbrücke (1861-1863) war der Leonhardsplatz, wie er damals hiess, zu einem neuralgischen Punkt des öffentlichen Lebens geworden. Wenig überraschend, wurde er auch vom ersten Zürcher Rösslitram bedient, das am 5. September 1882 lanciert wurde. Sieben Jahre später beförderte das Polybähnli von der Talstation am Leonhardsplatz aus erstmals Studentinnen und Studenten ins Hochschulquartier.
Endgültig zum verkehrstechnischen «Primus inter Pares», sprich zum Ausgangspunkt des öffentlichen Verkehrs, wurde der Leonhardsplatz am 22. Oktober 1897, durch die Inbetriebnahme der Strassenbahn Zürich-Oerlikon-Seebach (ZOS), im Volksmund auch «Oerlikertram» genannt. Die Hauptstrecke führte auf 5,5 Kilometern der Stampfenbachstrasse entlang, dann über den Milchbuck bis zum Bahnübergang in Oerlikon, wo damals die Stadtgrenze durchging. Wer nach Seebach wollte, musste da umsteigen.
Zu diesem Zeitpunkt redeten viele Zürcherinnen und Zürcher bereits vom Central, nicht mehr vom Leonhardsplatz. Der Name stammte vom Hotel Central, das 1883 anlässlich der ersten schweizerischen Landesausstellung eröffnet wurde. 1950 wurde diese Umbenennung dann auch von den Stadtoberen offiziell vollzogen. Da immer mehr Tram- und Trolleybuslinien hier Halt machten, gewann das Central mehr und mehr an verkehrstechnischer Strahlkraft … und just in jener Phase, als unsere Jungmännergruppe das Central zum städtischen Hotspot (v)erklärte – siehe oben –, wurde es auch noch prominenter Schauplatz im französischen Krimi «Espion, Lève-toi!» (1982) mit Lino Ventura und Michel Piccoli; legendär sind vor allem die Szenen in der Polybahn und im «Kon-Tiki» (siehe Punkt 6). Kurz und wunderbar: Mehr ging nicht!
Nicht mal die riesige Werbung wirkt noch verführerisch
Mehr ging nicht! Das galt, nicht ganz so wunderbar, irgendwann auch für das Verkehrsaufkommen. Mit der Bahnhofbrücke, dem Limmatquai, der Niederdorfstrasse, dem Seilergraben, der Weinbergstrasse und der Stampfbachstrasse wurde das Central gleich von sechs einmündenden Strassen mit Autoverkehr vollgepumpt (seit 2006 ist zumindest das Limmatquai autofrei). Hinzu kamen zusätzlich sechs Tramlinien – 3, 4, 6, 7, 10 und 15 – sowie die Trolleybusse 31 und 46.
All dies hatte (und hat bis dato) zur Folge, dass das Central von städtischen Festumzügen und Grossanlässen (Fasnacht, Sechseläuten, Street Parade) ausgeschlossen (oder, je nach Sicht, eher verschont) bleibt, weil es nicht gesperrt werden kann, da der Innenstadtverkehr sonst kollabieren würde. Ausnahmen bildeten die beiden Frauenstreiktage am 14. Juni 1991 und am 14. Juni 2019; da war das Menschenaufkommen schlicht zu gross.
Diese Tatsache zeigt – das Central ist sowohl von seinem Standort als auch von seinem Status her noch immer zentral, um es wortspielerisch zu formulieren. Gleichwohl ist der Glanz der ganz grossen Tage verblasst. Neuere, jüngere, auf den ersten Blick dezentrale «Zentren» wie Oerlikon oder Altstetten scheinen der alten Primadonna der Ur-City mehr und mehr den Rang abzulaufen. Irgendwie symbolhaft dafür steht die überdimensionale Schoggi-Werbung am Fuss von Weinbergstrasse und Seilergraben – sie vermittelt heute eher den Eindruck eines stummen Anachronismus als einer unwiderstehlichen Verführung.
Kommt hinzu, dass die meisten der eingangs erwähnten «Lockstoffe» unserer Jugendtage gänzlich verschwunden sind… oder zumindest ihre einstige Einzigartigkeit eingebüsst haben. Dies gilt für die Commihalle, für die Brasserie Johanniter, für das Kon-Tiki… und, besonders traurig und trist, für die umgebaute und hausintern umplatzierte Piano-Bar des Hotel Central: Der cheesy Jazz ist noch da, der mondäne Charme jedoch ist weg; das verstohlene Händchenhalten und Salznüsschenknabbern verknallter Backfische findet heute anderswo statt.
Mehr zum Thema Möchten Sie tiefer in die Thematik der Netzentwicklungsstrategie eintauchen? Auf vbz2040.ch finden Sie alle Informationen inklusive einer interaktiven Karte zur Netzentwicklungsstrategie 2040. Mehr zum Thema ausserdem im Dossier der Netzentwicklungsstrategie 2040