Wenn am Bellevue das Gleis komplett erneuert wird, ist es ganz selbstverständlich, dass sich die Fahrwege unserer Trams in alle Richtungen winden. Freilich aber krümmt sich die Schiene nicht vor Lachen und auch nicht von alleine: Hier folgt ein Portrait des Mannes, der dafür sorgt, dass punkto Tramschienen alles eine gute Wendung nimmt.
Walter Wittwer ist Schienenbieger. Das ist soweit alles, was ich weiss, an diesem Montag-Morgen. In der Werkstatt treff ich auf einen herzlichen Mann, der die Ruhe selbst zu sein scheint. In der grossen, kühlen Halle stapeln sich Schienen, schweben am Deckenkran hängend vorbei.
Natürlich ist Walter Wittwer nicht einfach ein «Schienenbieger», er ist genau genommen gelernter Metallbauschlosser, der als Handwerker Produktion in der VBZ-Infrastruktur arbeitet. 25 Jahre ist er schon bei den VBZ, der Mann, der die Schienen in Form bringt. Er begann als Carrosserieschlosser, wechselte zur Weichen-Instandhaltung und landete schliesslich an der Schienenbiege-Maschine. Warum eigentlich? Sind Fahrzeuge nicht viel spannender als Schienen?«Ich liebe die Arbeit mit dem Metall». Walter Wittwer lächelt, wirft die Hände hoch, als wolle er sagen «es ist einfach so». «Ich liebe es», bekräftigt er nochmal und strahlt über das ganze Gesicht. Das war nicht immer so. Erst mit den Jahren habe ihm der Beruf wirklich gefallen. Was er denn als Kind werden wollte, frage ich. Rockstar, Pilot? Nichts von alledem. Man hat ihm ein besonderes handwerkliches Gefühl im Umgang mit Metall attestiert, damals in der Berufswahlschule, und so nahm seine Karriere ihren Lauf. Was er nicht alles schon geformt hat: Eingangstüren, Fenstergitter, Treppengeländer… Den Job an der Schiene hat er aus persönlichen Gründen aufgegleist: Der Umgang in dem Team, in dem er heute arbeitet, ist etwas «rauher» – will heissen, direkter und auch persönlicher. Konflikte werden nicht zum Vorgesetzten getragen, sie werden untereinander ausgefochten, von Angesicht zu Angesicht. Authentisch halt, ehrlich. Nie geht dabei der Respekt und der Anstand untereinander verloren. «Am liebsten mag ich das Spezielle. Komplizierte Arbeiten, bei denen man den Kopf beisammen haben muss» schmunzelt er. Und wenn man den Kopf nicht beisammen hat? «Das gibt es nicht».
Die Ruhe der Erfahrung
Walter Wittwer strahlt eine Ruhe aus, die auch mich allmählich erfasst. Die Arbeit mit den Schienen wird wohl einem geregelten Ablauf folgen, denke ich. Keine Telefonate, keiner der am Pult steht und noch «schnell» etwas will. Nun möchte ich wissen, ob er denn auf der Strasse darauf achtet, wie die Schienen beschaffen sind, ob er seiner Frau sagt «Lueg emal, diese Schiene, aso nei, ts ts». «Das sicher nicht,», lacht er, «am ehesten schaue ich auf die Übergänge, ob der Radius sauber gebogen ist». Was er sieht, merkt er sich für seine Arbeit, versucht zu optimieren. Schienen werden nach dem «Knick-Verfahren» gebogen. Wichtig ist, dass die Knickstellen minimiert, abgerundet werden. Früher sei er gern an Ausstellungen gegangen und habe den einen oder anderen Verkäufer mit seinen Fragen an den Anschlag gebracht. Die Erfahrung hat ihn gnädig gestimmt, heute lässt er’s stecken. Der Mann wirkt wie einer, der seinen Weg gefunden hat. Ob er den Job bis zur Pensionierung behalten will – er ist 54 Jahre alt – oder noch etwas anderes macht? «Das kann ich heute nicht sagen». Es komme darauf an, wie die Gesundheit und der Körper mitmachen. Ich stutze.
«Sehen Sie sich doch die Leute an. 60% der Leute sind nicht gesund, das sieht man schon an der Haltung». Er mache Taj Chi, verrät er. Schon seit 12 Jahren. «Das erklärt die Ruhe», denke ich mir. „Wofür muss man im Körper nicht schauen?», fragt er mich. Hä? Ich verstehe nicht… Viele Leute schauen gar nicht für ihren Körper. Obwohl sie sollten. «Für Verspannungen – die kommen von alleine». Mein Nacken meldet sich. Ich fühle mich ertappt. Ob er nochmal den gleichen Job wählen würde? «Ja, das würde ich. Ich würde nur viel früher mit meiner Freizeitbeschäftigung beginnen». Ein schönes Schlusswort.
Wenn ein Interview irgendwie aus den Schienen gerät
Ich lege den Block beiseite. Das Gespräch wird jetzt privater, wir plaudern über Gesundheit und Taj Chi. Ich blicke auf die Uhr: «Wir haben gehörig überzogen», bemerke ich. Angesichts Walters Zentriertheit nehme ich meinen eigene Anspannung umso stärker wahr. Er nehme sich die Zeit, die es braucht, entgegnet er gelassen. Und mir habe es ja auch etwas gebracht: «Sie sind jetzt viel entspannter», schmunzelt er, und lehnt sich zurück. Es fühlt sich an, als schaue er direkt in mich hinein. Schwindel steigt in mir auf, ich fühle mich erkannt und gläsern gleichzeitig. Er erklärt mir, wie er mit beiden Beinen im Leben steht: «Man muss die Dinge nehmen, wie sie sind, auch im Stress. Immer wieder zum roten Faden zurückkehren. Machen, was machbar ist, klären, wo es stockt». Das weiss ich natürlich auch, nur in der Praxis hapert es. «Es entspricht dem Zeitgeist, fünf Dinge gleichzeitig zu tun, jederzeit erreichbar zu sein», höre ich mich reden, und weiss genau: Blödsinn. Er hat recht. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wie ein Zen-Meister erteilt mir Walter eine Lektion, wie man seine innere Mitte bewahrt. Ich meine das nicht despektierlich, sondern ganz ehrlich. Am Ende verlasse ich den Raum um einiges leichter, wenn auch leicht aus dem Konzept und mit dem Gefühl: Das war kein Interview, es war eine Begegnung – Walter Wittwer bringt nicht nur Schienen in Form.