Das Metronom von Tram und Bus

Tagsüber alle 7.5 Minuten ein Tram oder Bus, so sind wir uns das in Zürich gewöhnt. Aber was, wenn dieser schöne Takt plötzlich durcheinander gerät, ein Fahrzeug ausfällt oder die Strecke blockiert ist? Dann ist das ein Fall für die Leitstelle. Mario Schmid, operativer Leiter der Abteilung erklärt, welche Möglichkeiten die Leitstelle hat, die Pünktlichkeit im ÖV wiederherzustellen.

Man darf sich die Leitstelle durchaus als Kopf des Tram- und Busbetriebs vorstellen. Zumindest, wenn es um die vitalen Lebensfunktionen des Apparats geht. Sind diese gestört, beginnt besagter Apparat im Eiltempo, Signale in alle Richtungen zu senden. Die Leitstelle bemerkt, nebst dem Fahrpersonal, als Erste, wenn der Fluss von Tram und Bus ins Stocken gerät. Das Leitsystem, das die Fahrzeugstandorte ermittelt, beginnt dann nämlich an den entsprechenden Stellen in verschiedenen Rottönen aufzuleuchten und Abweichungen vom Fahrplan anzuzeigen. Einer, der schon seit 18 Jahren in diesem «Denkapparat» arbeitet, ist Mario Schmid. Er erklärt uns heute, was abläuft, wenn es mit der Pünktlichkeit harzt im Stadtzürcher ÖV.

Die Leitstelle überwacht den fahrplanmässigen Einsatz und leitet Massnahmen ein, wenn Tram und Bus aus dem Takt kommen. Was muss erfüllt sein, damit die Abteilung im Dienste der Pünktlichkeit aktiv wird?

Solange die Wendezeit eines Fahrzeugs an der Endhaltestelle positiv bleibt, ist der einzige Handlungsbedarf jener, den weiteren Verlauf zu überwachen. Denn die Wendezeit oder Aufenthaltszeit ist so bemessen, dass kleinere Unregelmässigkeiten aufgefangen und die Fahrzeuge pünktlich in die nächste Runde geschickt werden können. Der Moment jedoch, ab dem die Wendezeit negativ wird, ist ein Alarmzeichen, denn dann stehen keine Reserven mehr zur Verfügung, um Verspätungen aufzufangen.

Wäre es da nicht schlau, möglichst viel Wendezeit einzuberechnen – für den Fall der Fälle?

Das ist eine Frage der Ökonomie. Mehr Zeit bedeutet mehr Fahrzeuge, mehr Personal, und beides hinterlässt einen finanziellen Abdruck. Es heisst nicht umsonst «Zeit ist Geld».

Also kann man sagen, sobald die Wendezeit negativ ist, tritt die Leitstelle in Aktion?

Nicht unbedingt. Wenn mehrere Fahrzeuge hintereinander eine negative Wendezeit aufweisen, also alle gleichmässig zu spät abfahren, bleibt der Intervall ja derselbe. Während die wartenden Kunden des ersten, verspäteten Fahrzeuges die Verzögerung noch spüren, gilt dies für jene auf den nachfolgenden Kursen nicht mehr unbedingt.

Und wenn der Kunde etwas spürt, was wird dann unternommen?

Je nach Vorfall erteilen wir dem Fahrpersonal konkrete Anweisungen.

Wie muss man sich diese vorstellen – zum Beispiel wenn eine Strecke blockiert ist?

Eventuell müssen Troubleshooter aufgeboten, Strecken gesperrt und Fahrzeuge umgeleitet und Fahrgäste informiert werden. Bei grösseren Unterbrüchen können wir ein zusätzliches Fahrzeug einschiessen.

Weshalb kommt es überhaupt zu derartigen Unterbrüchen?

Da gibt es unzählige Gründe, eine Demonstration etwa oder Unfälle im Gleisbereich. Natürlich gibt es schon auch Einflussfaktoren, bei denen wir «selbst schuld» sind. Technische Störungen am Fahrzeug beispielsweise. Nur schon eine Tramtüre, die nicht geschlossen werden kann, hat einen sofortigen Einfluss auf die Pünktlichkeit.

Wie Sie selbst sagen, kosten zusätzliche Fahrzeuge Geld. Haben wir überhaupt Fahrzeuge in Reserve?

Unter der Woche stehen uns ein zusätzliches Tram sowie ein Bus in der Nähe des Hauptbahnhofs zur Verfügung. Diese setzen wir bei Störungen und Unregelmässigkeiten ein, also wenn Fahrzeuge ausfallen oder zur Kompensation von Verspätungen.

Das ist nicht gerade übermässig viel.

Es ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Bei Einzelereignissen mag das gehen, aber sobald sich mehrere Ereignisse kumulieren, wird es schwierig – dann müssen wir abwägen. In so einem Fall verhandeln die Verkehrsleiter untereinander, wo die Fahrzeuge eingesetzt werden – in der Regel dort, wo sie die meiste Wirkung entfalten.Wir haben aber noch die Möglichkeit, aus dem Depot – abhängig der technischen Verfügbarkeit – zusätzliche Fahrzeuge ausfahren zu lassen und beispielsweise als «Pendelwagen» einzusetzen.

Was ist ein Pendelwagen?

So ein Wagen ist dafür da, auf einem bestimmten Abschnitt hin und her zu pendeln und damit aufgelaufene Verspätungen kompensieren zu können.

Und wozu pendelt dieser Wagen hin und her? Können Sie uns da ein Beispiel geben?

Nehmen wir die Linie 72 von Milchbuck bis Morgental und zwei Szenarios zum Auffangen einer potenziellen Verspätung. Erstes Szenario: Wir wenden alle 72er-Busse an der Waffenplatzstrasse vorzeitig. So kompensieren wir die Verspätung. Zwischen Waffenplatzstrasse und Morgental setzen wir einen oder zwei Pendelwagen ein – diese füllen die entstandene Lücke. So müssen die Leute zwar gezwungenermassen umsteigen, verlieren dabei aber nicht allzu viel Zeit.

Im zweiten Szenario holen wir ein Fahrzeug aus der Garage und erhöhen damit die Gesamt-Anzahl Fahrzeuge. Statt zwölf sind dann dreizehn Fahrzeuge im Einsatz. Das zusätzliche Fahrzeug setzen wir dort ein, wo sich nach Fahrplan eigentlich das verspätete Fahrzeug befinden müsste, und fahren damit demjenigen, das verspätet ist, entgegen. Dann tauschen die Chauffeure auf der Strecke ab vom verspäteten Fahrzeug auf das entgegenkommende, pünktliche ab. So stellen wir den Soll-Zustand wieder her. Das machen wir mit sämtlichen verspäteten Wagen so lange, bis alles wieder so ist, wie es sein sollte.

Werden alle Verspätungen, die ein Eingreifen erfordern, mit zusätzlichen Fahrzeugen gelöst?

Nein. Es gibt quasi eine Art «Naturgesetz» im Fahrplan: Die planmässige Umlaufzeit eines Fahrzeuges dividiert durch die Anzahl einsetzbarer Fahrzeuge ergibt den Takt. Ein Beispiel: Ist die geplante Umlaufzeit inklusive einer Wendezeit 75 Minuten dividiert durch 10 Fahrzeuge komme ich auf den 7.5-Minuten-Takt.

Wird diese Umlaufzeit plötzlich länger, also wenn der Bus beispielsweise statt der geplanten 75 plötzlich 110 Minuten benötigt, um einmal die ganze Strecke zu fahren, dann kann ich entweder versuchen den Takt beizubehalten, indem ich zusätzliche Fahrzeuge einschiesse, oder ich schraube an diesem Takt herum. Im letzteren Fall würde das bedeuten, dass zum Beispiel nur noch alle 11 anstatt alle 7.5 Minuten ein Fahrzeug kommt. Diese Kausalität kann ich nicht ausser Kraft setzen.

Zur Auflösung des Dilemmas gäbe es noch eine Variante, jene der Beschleunigung: Die Metro Chicago löst das in der Regel so, dass betroffene Fahrten schneller werden. Also nicht mit dem «Gaspedal», sondern indem das Fahrzeug nicht mehr alle Haltestellen bedient. Da leuchtet dann eine rote Lampe, und es heisst sinngemäss «dieser Zug wird jetzt zum Expresszug, entweder fahren Sie mit mir weiter oder Sie steigen aus.»

Also kann man entweder zusätzliche Ressourcen aufbieten oder das Angebot reduzieren?

Ja, es gibt vier «operative Hebel», mit denen sich eine Verspätung einfangen lässt: Geschwindigkeit, Wendezeit, zusätzliche Fahrzeuge oder die vorübergehende Erhöhung des Intervalls. Insofern kommen eben auch den «Hebeln in der Planung» eine hohe Bedeutung zu: Es sollen möglichst gar keine solchen Zustände entstehen. Dazu sind dann separate Spuren, Stauumfahrungsmöglichkeiten und ein ÖV-freundliches Verkehrsmanagement notwendig.

Wenn es nicht möglich ist, die Verspätung zu verhindern, wie schnell lässt sie sich beheben?

Wie lange die Korrektur dauert ist von den Verkehrsverhältnissen abhängig. Man darf aber nicht vergessen, dass sich eine Verspätung unter Umständen summiert. Trotzdem sind jene Kunden, die zu Beginn einer Verspätung einsteigen möchten, immer am stärksten betroffen. Sie werden das vollste Fahrzeug antreffen.

Was meinen Sie damit, dass sich die Verspätung summiert?

Wenn sich wegen einer Verspätung zu viele Fahrgäste im Fahrzeug befinden, stört das den üblichen betrieblichen Ablauf. Genauer gesagt dauert es dann länger, bis alle aus- und eingestiegen sind. Das erhöht die Verspätung noch zusätzlich. Die Wartezeit an den Haltestellen hat grundsätzlich einen grossen Einfluss auf die Pünktlichkeit. Je länger wir warten müssen, desto höher fällt auch die Verspätung aus.

Die Fahrgäste müssen darüber ja auch informiert werden. Wie ist der Informationsfluss bei einer Verspätung sichergestellt?

Ob ein Fahrzeug pünktlich ist oder nicht, sieht man im elektronischen Fahrplan beziehungsweise in der App. Die Infos dazu kommen direkt aus dem Leit-System, sie sind also jederzeit topaktuell.

Oder an den elektronischen Anzeigetafeln an der Haltestelle.

Nicht ganz. Bei der dynamischen Fahrgastinformation handelt es sich um eine Countdown-Anzeige der nächsten Abfahrten in Echtzeit. Die gibt keine Auskunft über die Verspätung. Nur wer sich auskennt und weiss, wie das Intervall ist, kann aufgrund der angezeigten Minuten erahnen, dass etwas nicht stimmt.

Zu guter Letzt: Was hat sich Ihrer Wahrnehmung nach in den 18 Jahren verändert, seit Sie bei der Leitstelle begonnen haben?

Das Verkehrsvolumen hat zugenommen, das bringt natürlich auch mehr Probleme. Insbesondere beim Bus, der im Mischverkehr fährt, sieht man das gut. In der Leitstelle beobachten wir tendenziell mehr Verkehrsstörungen, will heissen, Stau. Über die letzten 18 Jahren betrachtet wurde es also für den Bus schwieriger – allerdings sind auch Schwankungen zu beobachten. Da wo es Baustellen hat, oder nennen wir es temporäre Verkehrsänderungen mit Begleiterscheinungen, also beispielsweise die Einhausung Schwamendingen– kommt es auf bestimmten Achsen zu Auswirkungen, die wir spüren. Das schwingt sich dann irgendwann wieder ein.

Und wie begegnen Sie diesen Herausforderungen?

Die Sache ist die, dass man nicht vorhersagen kann, was wann auftritt. Wir träumen davon, stets ein möglichst gutes, pünktliches ÖV-Angebot zu haben, unabhängig von der Verkehrslage. Das ist aber ein Stück weit auch eine Illusion. Warum ist das so? Der ÖV ist ein geplanter Verkehr. Die Leitstelle funktioniert im Grunde – schon seit 40 Jahren – so wie Google mit Ist-Daten, die uns zeigen, wo Stau herrscht. Wir sehen, wo es nicht mehr läuft, sobald es so ist. Die Leitstelle hat also mehrheitlich reaktive Instrumente zur Auswahl. Um dies ansatzweise zu verändern wäre es hilfreich, wenn man bestimmte Werte sichtbar machen würde. Dies könnten nebst Echtzeitdaten des Verkehrsaufkommens auf bestimmten Abschnitten zum Beispiel auch Verkehrsdaten der abgelaufenen Perioden sein, welche dann eine Prognose erlauben.

Mario Schmid, operativer Leiter der VBZ-Leitstelle.

Dieser Artikel erschien erstmals am 25. August 2020 

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