Als die Trams zu wiehern begannen

Über ein Kilo Buch, verteilt auf zweihundert Seiten – das ist die Geschichte des Rösslitrams. Der Autor und langjährige VBZ-Mitarbeiter Bruno Gisler hat mehr als drei Jahre recherchiert, Originalmaterial zusammengetragen, getextet, Neues entdeckt und teils auch liebgewonnene Vorstellungen beerdigt, um dieses einzigartige Zeitzeugnis zu verfassen.

Wir tauchen ab in die Welt von vor fast 150 Jahren, in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus den unzähligen im Buch erwähnten Details lässt sich der damalige Alltag wunderbar rekonstruieren.

«Prinz» kreuzt bei der Haltestelle «Bahnhofbrücke rechtes Ufer» die «Flöte». Beide Pferde ziehen einen gut besetzten Wagen der braunen Linie hinter sich her, bis der Gegenkurs vorbei ist im Schritttempo, dann verfallen sie wieder in Trab. Leichter Nieselregen begleitet sie auf der Fahrt durch die Limmatstadt. Am Helmhausplatz winkt Herr Zimmermann im schwarzen Anzug und mit Hut wild mit seinem Schirm. Halt auf Verlangen. Für 10 Rappen reisst der Kondukteur auf der hinteren Plattform ein Billet vom Endlospapier, das er in einer Messingbüchse mit sich führt. Bald fängt sich Prinz eine leichte Verspätung ein. Sein Wagen hat an der Ausweichstelle keinen Vortritt. Dafür hat er nun Feierabend. Nach zwei Touren auf der Riesbacher Linie bis zur Stockgasse und zurück ist das tägliche Soll von 22 Kilometern erfüllt. Einfahrt ins Depot Riesbach an der Seefeldstrasse. 7.5 Kilogramm Hafer und 5 Kilogramm Heu, die Tagesrationen Futter für die Pferde sind grosszügig, schliesslich sind gut genährte Tiere wichtig im täglichen Betrieb.

Die heutige Tramhaltestelle Central hat namenstechnisch eine lange Geschichte: Bahnhofbrücke rechtes Ufer - Neumühle - Hotel Central - Leonhardplatz - Leonhardsplatz - Central (Bild: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Im «Tages-Anzeiger» steht eine kleine Notiz, dass der Betriebschef Kuhn «zum Zweck des Ankaufs einer grösseren Anzahl tüchtiger Pferde für den Strassenbahndienst» im Ausland weilt. Die Pferde, alle von der Rasse Ardenner, stammen aus Luxemburg und werden sorgfältig ausgesucht. Und die Qualität hat ihren Preis: 1000 Franken zahlt die Gesellschaft für ein Pferd.

Am Paradeplatz tut heute Herr Egloff seinen Dienst als Weichensteller. Alle sechs Minuten tritt er mit seinem Weicheneisen in Aktion. Er hat es sich angewöhnt, alle Kutscher mit einem kurzen Kopfnicken zu grüssen. Um ihren Job beneidet er sie nicht, vor allem an regnerischen Tagen wie dem heutigen. Auf der Plattform stehend, sind sie Wind und Wetter ausgesetzt, müssen die Pferde im Griff haben und immer auf der Hut sein, um notfalls die Bremskurbel zu bedienen.

Auf dem Betriebsbüro der Zürcher Strassenbahn herrscht derweil Freude. Über ein Inserat im «Tagblatt der Stadt Zürich» erfuhr das Fräulein Meier vom Fund ihres verlorenen Schirmes, den sie nun wieder in den Händen hält. Erst gestern Abend kam sie aus Paris zurück und konnte zum ersten Mal vom neu eingeführten Spätkurs profitieren, der am Bahnhof den Anschluss des Schnellzuges aus der französischen Metropole abnimmt und die Reisenden zurück nach Riesbach bringt.

Bruno Gisler hat die Geschichte des Zürcher Rösslitrams in einem umfassenden Werk aufgearbeitet. Die oben geschilderten Szenen zeigen nur einen Bruchteil all der spannenden Details, die er zusammengetragen hat. Was aber hat ihn überhaupt dazu bewogen, ein solches Buch zu verfassen? Und welches waren die Highlights seiner über dreijährigen Arbeit?

Herr Gisler, mit welcher Motivation recherchiert man jahrelang zum Thema Rösslitram?

In meiner Familie wird erzählt, dass mein Urgrossvater Rösslitram-Kutscher war. Ich habe es also quasi im Blut. Ob das nun stimmt oder nicht – ich bin einfach allgemein sehr interessiert am Historischen, vor allem an dem Bereich, der den öffentlichen Verkehr betrifft. Das Rösslitram hat mich bei den Recherchen für einen Artikel im «Regenbogen» (Anm. d. Red.: Das ist die ehemalige VBZ-Personalzeitschrift) gepackt. Es sind Fragen aufgetaucht, die bis dahin niemand beantworten konnte, was natürlich bei mir den Ehrgeiz weckte, diese Antworten zu finden. Dafür muss man der Typ sein. Es braucht Hartnäckigkeit und Kondition. Ich verstehe das Buch als eine Dienstleistung für Leute, die sich für das Thema interessieren. Ich habe versucht, mich in sie hineinzuversetzen und herauszufinden, was für sie spannend sein könnte. Zum Glück sind über diese Epoche sehr viele Unterlagen vorhanden, im Stadtarchiv und auch in der Zentralbibliothek. Gutes Material boten vor allem Protokolle des Direktionskomitees, Korrespondenzen und Zeitungsartikel. Es war aber eine regelrechte Knochenarbeit, die ganzen Dokumente zu sichten und die spannenden Details herauszuschaffen.

In meiner Familie wird erzählt, dass mein Urgrossvater Rösslitram-Kutscher war.

Welche Erkenntnisse haben Sie besonders beeindruckt?

Vielleicht mag der eine oder die andere den Eindruck haben, dass es sich beim Rösslitram um einen Hobbybetrieb handelte, schliesslich verkehrte es von 1882 bis 1900, also zu einer Zeit, als man noch nichts vom heutigen Betriebsmanagement wusste. Bei meinen Recherchen kam aber sehr eindrücklich zutage, dass das Unternehmen hochprofessionell geführt wurde. Ausserdem bekam ich einen Eindruck von der Komplexität der Organisation und ihren Prozessen: die Versorgung der Pferde, der Futtereinkauf, der Fahrplan, usw. Letzteren einzuhalten war eine grosse Herausforderung, da die Wagen nur an den Ausweichstellen kreuzen konnten. Lange glaubte man auch, dass das Rösslitram nur für Reiche erschwinglich war. Das stimmt aber nicht. Es war zwar kein Massenverkehrsmittel, wurde aber auch von der Mittelschicht genutzt. Eine Fahrt war gleich teuer wie ein Glas Bier; nur leisteten sich vielleicht viele lieber ein Bier als eine Fahrt im Tram.

Der Streckenverlauf mit den Ausweichstellen. (Stadtarchiv Zürich, VII.4:19)

Ober- und Mittelschicht ist das eine, aber wie war das in Bezug auf die Geschlechter? Sind Frauen auch Rösslitram gefahren?

Ja, sind sie. Und was ich interessant finde, ist der damalige Umgang mit den Frauen: Auf den Fahrten hat man sie sehr galant behandelt. Der Kondukteur hatte die Pflicht, dafür zu sorgen, dass für sie ein Sitzplatz freigemacht wurde. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg wurden auch Frauen angestellt, als sogenannte Billeteusen. Sie durften aber nicht alleine arbeiten, sondern immer nur zusammen mit einem männlichen Kollegen. Das änderte sich erst in den 1960er-Jahren, als der Personalmarkt ausgetrocknet war, und stiess bei den Männern auf grossen Widerstand.

Welchen Eindruck haben Sie grundsätzlich von der Epoche gewonnen, in der das Rösslitram unterwegs war?

Ich fand es sehr spannend, dass ich durch die Recherchen zum Rösslitram auch viel über den Alltag, über die Gesellschaft erfahren habe. Die Leute arbeiteten dazumal sehr hart, Disziplin war wichtig, die Arbeitszeiten lang. Da blieb nicht viel Raum für Freizeit. Es gab aber auch nicht viele Unterhaltungsmöglichkeiten, kein Kino, kein Radio. Nur das Theater, das sehr teuer war. Den Abend verbrachten die Männer im Wirtshaus. Nur der Sonntag war frei. Man unternahm Ausflüge mit der Familie und verbrachte Zeit in der Natur, um der miesen Stadtluft zu entfliehen. Am Sonntag war darum auch die Frequenz auf dem Rösslitram am höchsten. Schlägereien und Wortgefechte auf der Strasse waren an der Tagesordnung. Um die Streithälse bildeten sich dann jeweils neugierige Menschentrauben; Es war etwas los, es gab etwas zu sehen.

Über das Buch

Erhältlich ist das Buch im Shop des Tram-Museums (geöffnet Mi, Sa, So jeweils am Nachmittag) oder online über www.tram-museum.ch, für CHF 68.

Persönliche Anmerkung der Autorin
Als ich das dicke Buch zur Geschichte des Rösslitrams zum ersten Mal in die Hand nahm, war ich etwas skeptisch; Ich erwartete eine eher trockene Materie. Bruno Gisler hat es aber geschafft, mich schon im Vorwort zu verblüffen. Und mit jeder Seite, die ich las, wuchs meine Begeisterung. Details über jedes einzelne Pferd, die Gleise, Linien, den Fahrplan, das Personal, die Gesellschaft und vieles mehr – akribisch festgehalten und in einer mitreissenden Art und Weise erzählt. Dieses lesenswerte Buch ist ein höchst gelungenes Stück Zürcher Tramgeschichte.

PS: Erfreut aber auch leicht irritiert hat mich die Tatsache, dass damals auch ein Pferd namens «Julia» und eins namens «Müller» im Einsatz waren.

Artikel teilen:

Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie unserer Datenschutzerklärung zu.
Mehr erfahren