Liebeserklärung an die Zürcher Trams

Luegisland, Alte Trotte, Kappeli, Morgental, Laubegg, Milchbuck, Rehalp. Reiht man all die exotischen Namen der VBZ-Tramhaltestellen wie Perlen auf eine Schnur, erhält man eine Kette, die eher nach Bambiland als nach Zürich klingt. Wie Orte aus dem Land von Milch und Honig.

Text & Bilder: Alberto Venzago

Ich wohne neun Monate im Jahr im Ausland. In Hotels. In den paar Wochen, die ich im Sommer in Zürich war, verbrachte ich einige meiner Nächte im Tram. Es ist jedes Mal aufs Neue gut, wieder daheim zu sein, denn es gibt ihn, den Unterschied zwischen dem Reisen in der grossen weiten Welt und dem Reisen durch die wunderbare kleine Welt Zürichs. Auf Reisen bin ich immer irgendwo anders. Hier in Zürich bin ich nur bei mir selbst.

Mein liebster Ort in Zürich ist und bleibt das 4er-Tram. Als fast einzige Linie fährt es nicht durch die Bahnhofstrasse. Im Vierer fehlen die mausgrauen Anzüge. Der Vierer ist bunt, vielfältig, äusserst spannend. Die VBZ-Statistik vermerkt trocken: Eine reine «Flachlandlinie» ohne Steigungen, ohne Gefälle, 8,6 Kilometer, 26 Haltestellen, 33 Minuten lang. Was uns die Statistik verschweigt: Im Vierer finden sich die sexiesten Frauen und die coolsten Männer der ganzen grossen weiten Welt.

«Für meine Bilder habe ich manchen Menschen einen kurzen Moment der Einsamkeit und auch der Zweisamkeit gestohlen.»

Die besten Bilder entstehen immer im Kopf. Leider sind sie auch nach dem «Klick» in der Erinnerung oft besser als auf Zelluloid. Wie beispielsweise die Szene nachts beim Opernhaus. Ein leidenschaftliches Liebespaar. Wie Ertrinkende klammern sie sich aneinander. Lovers, die eigentlich nicht zusammengehören dürfen, so was rieche ich. Für Sekundenbruchteile tauchen sie aus der dunklen Masse auf. Der Lichtstrahl einer Strassenlampe trifft – wie bei einem perfekt ausgeleuchteten Filmset – auf die geschlossenen Augen der jungen Frau. Ein tolles Bild.

Da ist er, der entscheidende Augenblick in der Fotografie. So nah. Und doch so fern. Und jetzt: Soll ich diesen himmlischen Augenblick stören? Ich bin ratlos, befinde mich mittendrin in diesem immer wiederkehrenden Dilemma, das mich als «Street-Photographer» ständig begleitet: Darf, soll, oder muss ich gar den Auslöser bedienen? «Klick»? Oder eben «Nicht-Klick»?

Für meine Bilder habe ich manchen Menschen einen kurzen Moment der Einsamkeit und auch der Zweisamkeit gestohlen. Ich möchte mich an dieser Stelle dafür entschuldigen, aber auch sagen, dass ich versucht habe, dies möglichst respektvoll zu tun. Ich bedanke mich bei allen, die sich auf meinen Bildern wiederfinden. Auf ihrer Reise vom Milchbuck zum Bahnhofsplatz, von der Fröhlichstrasse zum Paradeplatz. Ich bedanke mich bei ihnen allen für viele aufregende – manchmal gar intime – Sekundenbruchteile ihres und meines Lebens.

Sonntagmorgen. Noch ist es dunkel. Im ersten Tram vom Escher-Wyss-Platz Richtung Bahnhof sitzt ein abgestürzter Partygänger. Ganz allein. Sein Blick ist schwammig. Ich halte die Kamera auf ihn, lache ihm zu. Seine Augen verdrehen sich, dann schaut er meine Kamera an. Eine Leica. So klein, dass er vermutlich Mitleid hat mit mir und denkt, der kann sich wohl nichts Besseres leisten. Er steht auf, beginnt zu tanzen, zieht sein Hemd aus. «Klick!» Und schon habe ich ihn, den Dreissigstel einer Sekunde. Und dann grad noch einmal: «Klick!» – «C’est pas une image juste, c’est juste une image.»

Alberto Venzago

Dem Fotografen und Filmer Alberto Venzago ist kaum eine Geschichte zu gefährlich, weder das organisierte Verbrechen in Japan noch die Revolution im Iran. «Als Fotojournalist muss ich immer wieder in verschiedene Hüllen schlüpfen», sagt der Gewinner des Robert Capa ICP Awards. «Im Vordergrund steht dabei nicht das schöne, sondern das wahre Bild.» Seine Fotoreportagen erscheinen in Magazinen wie Life, Sunday Times, GEO und Stern. Der Zürcher arbeitete vier Jahre für die Agentur Magnum und hat sich als «Concerned Photographer» etabliert. Dass er manchmal auch «Street-Photographer» für die Verkehrsbetriebe Zürich ist, macht die VBZ stolz.

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