Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute geht Natascha Klinger der Frage nach, ob der italienische ÖV in der Hauptstadt Rom seinem etwas fragwürdigen Ruf gerecht wird oder nicht.
Alle Wege führen aus Rom hinaus: So müsste es eigentlich lauten, das geflügelte oder vielmehr gepflasterte Wort «Alle Wege führen nach Rom». Die Redewendung bezieht sich nämlich darauf, dass das römische Strassennetz – wenig verwunderlich – von der Stadt der sieben Hügel aus gebaut wurde. Die Wege führten also erst einmal von dort weg, bevor sie wieder hinführen konnten.
So ähnlich verhält es sich auch mit dem römischen ÖV, wie ich unlängst feststellen musste. Auch wenn schon sehr viel Spott und Häme über das Transportwesen im «Stiefel» ergossen wurde, ist es keineswegs so, dass «Warten auf Godot» ein Synonym für den italienischen Bus, das Tram, die Metro wäre. Im Gegensatz zum abwesenden Hauptprotagonist im gleichnamigen Theaterstück taucht nämlich das italienische Verkehrsmittel in aller Regel auf, früher oder später. Auf unserem Rom-Trip haben sich uns jedoch vor allem dann Hürden in den Weg gestellt, wenn wir in die Stadt hinein wollten – eine Erfahrung, die seinerzeit schon die Germanen machen mussten. Zu welchen wir ja irgendwie gehören.
Fahren ohne gültigen Fahrausweis und mit Gesang
An diesem noch taufrischen Morgen haben wir uns kaum an der Haltestelle in einer Seitenstrasse des römischen Trastevere-Quartiers eingefunden, da biegt er schon um die Ecke, der rot leuchtende Bus der Linie 23. Genau so, wie er auf der modernen, digitalen Anzeigetafel angekündigt wurde und pünktlich auf die Minute. Es ist die erste Fahrt an jenem Freitag-Morgen, wir halten ein Drei-Tages-Ticket in Händen, das entwertet werden will. Ticketautomaten sind weit und breit nicht in Sicht. Wer dennoch unverdrossen einsteigt, so wie wir jetzt, stellt fest, dass sich zwar ein Stempelautomat im Fahrzeug befindet, jedoch ausgerechnet in jenem Bereich, der – Corona lässt grüssen – mit einer Kette abgesperrt ist. Der rechtschaffene Bürger müsste an der nächsten Haltestelle also aussteigen und zu Fuss gehen. Uns ist etwas mulmig zumute, aber wir wissen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass wir beim nächsten Umsteigen von unserem illegalen Dasein erlöst werden. Wie wohl ein Kontrolleur in Rom aussähe, würde er an der nächsten Haltestelle einsteigen wollen? Wir erfahren es zum Glück nicht.
Wir sind auf dem Weg nach Ostia Antica und steigen jetzt am Bahnhof in die Metro um, für welche – ähnlich dem ZVV-System «ein Ticket für alles» – das besagte, noch jungfräuliche Billett gültig ist. Unsere Vermutung, dass hier Automaten zugänglich sind, bestätigt sich: Mit einem nunmehr gestempelten Ticket besteigen wir also den Wagen Richtung Lido Centro und werden kulturell verwöhnt. Und zwar zunächst noch nicht in Form von alt-römischen Säulengängen und Statuen des Centurio, sondern in Persona einer Dame mit bunt besticktem Oberteil, die jetzt die Bühne, sprich die Metro betritt. Hinter sich zieht sie das Gestell eines Einkaufswagens her, an das ein Lautsprecher geschnallt ist.
Nun sind Gesangesdarbietungen im ÖV an sich nichts Ungewöhnliches. Diese Dame trägt ihr Lied jedoch überraschend professionell vor, so wohlgefeil, dass sich die Schreibende die ketzerische Frage stellt, ob es sich wohl um Playback handelt. Die kritische Beobachtung der Lippenbewegungen fällt wegen der Maske flach, ein direkter Vergleich mit der Sprechstimme im anschliessenden Gespräch fördert allerdings keine Unregelmässigkeiten zutage. Vielleicht müsste «Italy’s got talent» öfter mal ÖV fahren.
Eine geschichtliche Lasagne
Eine weitere Besonderheit unserer Metrostrecke liegt darin, dass die «Ferrovia Roma-Lido», anders als für Metros üblich, kein einziges Mal in die Tiefe abtaucht. Was auch nicht weiter verwundert, ist der Grund und Boden innerhalb der Stadtmauern doch mit antiken Gemäuern und ausserhalb mit Katakomben durchwoben. Rom ist sozusagen eine historische Lasagne, mit Schichten aus verschiedenen Epochen. Das ist mit ein Grund, weshalb die Metro in der Ewigen Stadt eine ewige Baustelle ist. Zumindest, wenn man die Zeitzeugnisse nicht einfach in Schutt und Asche legen will, wie es anscheinend für den Bau der Metro auch schon geschehen ist. Heute ist man diesbezüglich etwas umsichtiger. Dass es trotzdem immer wieder gewagt wird, in Rom zum Zwecke neuer Bauten zu graben, zeugt aus meiner Sicht von einem bewundernswerten, unerschütterlichen Optimismus.
Aber weiter zum Zielort, der das nächste kulturelle Highlight in sich birgt und wärmstens empfohlen sei, falls Sie nicht nur des Essens wegen nach Rom fahren. Die Ausgrabung in Ostia Antica zeigt eindrücklich, wie das Leben in der einstigen Hafenstadt aussah. Mit ein bisschen Phantasie können Sie sich leicht vorstellen, wie Sie in einer Toga durch die Marktgassen lustwandeln. Sogar ein antikes Klo ist zu besichtigen. Damit geht freilich ein mehrstündiger Spaziergang durch das Gelände einher (generell legen wir in Rom durchschnittlich rund 25’000 Schritte pro Tag zurück), weswegen wir im Anschluss noch etwas Meeresbrise schnuppern und die Füsse von uns strecken wollen.
Glücklicherweise ist der Strand mit der selben Metro binnen lediglich zwei weiteren Haltestellen zu erreichen. Wieder studieren wir den Haltestellenanzeiger, nach dessen Ansage der Zug, welcher noch weit und breit nicht zu sehen ist, bereits ein- beziehungsweise weitergefahren sein soll. Kurzum, wir erkennen jetzt: Die Anzeigetafel ist nicht mehr wert als Deko. Echtzeitdaten? I-wo! Allen (irreführenden) Angaben zum Trotz tuckert der vermisste Zug wenig später in die Haltestelle ein, und so kommt es, dass wir bald am Lido von Ostia flanieren und erst abends, während die bereits im Meer versunkene Sonne den Himmel als visuelles Echo in alle denkbaren Rot- und Violett-Töne taucht, den Heimweg antreten, um rechtzeitig für unseren «Ghost Walk» zurück zu sein, an welchem wir Rom von einer eher düsteren Seite her kennenzulernen hoffen.
Es gibt keine Geister in Rom
Unsere Köpfe leuchten ähnlich rot wie der Horizont über dem Ozean: Nicht, weil wir zuviel Sonne erwischt hätten, sondern deswegen, weil wir spät dran sind und forschen Schrittes dem Bahnhof entgegen eilen. Jenen erreichen wir zwar drei Minuten vor der planmässigen Abfahrt – womit wir jedoch nicht gerechnet haben ist, dass der Zug zu früh fahren könnte. Oder gar nicht. Angesichts der Menschenmenge auf dem Perron tippen wir auf Letzteres. Jedenfalls verbringen wir die nächste halbe Stunde statt mit düsteren Geistergeschichten auf einem ebensolchen Perron. Wir hätten uns vielleicht doch lieber noch etwas länger den visuellen Wonnen der Abendröte hingegeben. Immerhin, wir wollen nicht undankbar erscheinen, fährt überhaupt noch eine Bahn, wenn auch über eine halbe Stunde später.
Als wäre das nicht genug, vermeldet auch unser Anschlussbus eine Verspätung und erhöht unseren zeitlichen Rückstand um 12 Minuten auf eine Dreiviertelstunde. Im November ist es auch in Rom abends schon kühl: Wir entscheiden uns, die letzte Strecke zu Fuss zu gehen. Das wärmt und bietet eine gewisse Garantie, anzukommen. Sofern wir nicht versehentlich über eines der kreuz und quer herumstehenden Trottinetts stolpern: Möglicherweise ist es einer gewissen Gleichmütigkeit des städtischen Massentransports gegenüber seinen Fahrplänen geschuldet, dass sich in der Hauptstadt Italiens eine blühende Mikromobilität entwickeln konnte. Jedenfalls treffen wir alle paar Meter auf rollende Untersätze jeglicher Art. Was man hierzu benötigt, ist eine App und – angesichts von Passanten, Verkehr und unkonventionell asphaltierten Gehsteigen – eine gewisse Todesverachtung.
Es wird zeitlich nun immer enger, wir steigen an der Haltestelle «Belli» in das Tram der Linie 8. Es soll uns soweit wie möglich in die Innenstadt bringen, von wo wir uns zur Piazza Navona begeben wollen. Möglicherweise lullt uns die lindgrüne Umgebung zu sehr ein, vielleicht liegt es auch daran, dass es weder Bildschirme noch Ansagen gibt, jedenfalls bleiben wir unplanmässig im Tram sitzen, bis es in die Endhaltestelle Venezia einfährt.
Es muss sich wohl um einen dieser «glücklichen Unfälle» handeln, denn jetzt fällt unser Blick natürlich auf den gleichnamigen Palazzo Venezia, den wir buchstäblich nicht auf dem Schirm hatten. Nachdem wir diesen Prunk mit staunenden «Aaahs» und «Ooohs» quittiert haben, stolpern wir weiter in Richtung der Römischen Kaiserforen, welche wir ebenfalls mehr zufällig entdecken. Am Ende haben wir dann soviel gesehen, dass wir selber nicht mehr so ganz wissen, wo wir ursprünglich eigentlich hin wollten und vor allem, wieso. Wir glauben, es hatte irgendetwas mit Gespenstern zu tun, die jetzt allmählich verblassen.
Quando venis zum «Quo vadis»?
Getreu dem Lied «Un kilomètre à pied, ça use les souliers» könnten wir ein Lied von der Abnutzung des Schuhwerks singen, weswegen wir beschliessen, am folgenden Tag weniger per pedes, sondern vielmehr per Pneu unterwegs zu sein und ein Fahrrad zu mieten, Mit diesem möchten wir die Via Appia Antica erkunden. Zu diesem Zweck müssen wir aber erst einmal die eher unappetitliche, stark befahrene Strecke in der Innenstadt überwinden. Wie immer ist der Weg aus Rom heraus problemlos. Die 118, ihren Zürcher Gspöndli zum Verwechseln ähnlich in blau-weiss, trägt uns vor die Stadttore zur klangvollen Haltestelle «Appia Antica/Domine Quo Vadis», wo sich eine Fahrrad-Mietstation befindet und der schönere Teil der geschichtsträchtigen Strasse beginnt. Die Gegend ist an diesem Sonntag-Nachmittag gut besucht, auch die Römerinnen und Römer wissen frische Luft zu schätzen. Die seit 312 existierende Handelsstrasse gilt als längstes Museum der Welt, obendrein führt sie durch eine reizvolle Landschaft.
Auf dem Rückweg, wiederum an der Haltestelle «Quo vadis», fragen wir uns vielmehr «quando venis», wann kommst du, denn einmal mehr lässt uns der Bus warten, wennschon wir zuvor noch gesehen hatten, dass es auf der Strecke anscheinend genügend Pufferzeit für ein längeres Päuschen und einen kleinen Schwatz gibt – bitte verstehen Sie uns nicht falsch, wir mögen das jedem Busfahrer gönnen, wer wären wir sonst? Trotzdem ist uns nicht ganz klar, wieso es an einem lauschigen Sonntag auf dieser entspannten Strecke schon wieder harzt. Vielleicht lauert er hinter einer Hecke, bis genügend Menschen an der Haltestelle stehen, damit sich die Fahrt auch lohnt? Wahrscheinlich, so glauben wir, liegt es ganz einfach daran, dass der Bus stadteinwärts fährt.
So sehr sind unsere Mitarbeitenden mit den VBZ verbunden, dass sie in ihren Ferien noch an die Trams und Busse in der Heimat denken: Alle Sonderkorrespondentenberichte entstehen freiwillig und aus privater Initiative.
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Sonderkorrepondentenbericht über den italienischen ÖV:
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