Elegant, weiss auf schwarz ist sie angeschrieben, die Linie 7. Den Mut zur schwarzen Tafel habe ich immer bewundert. Die 7 ist meine Linie, am Billoweg steige ich in den hinteren Wagen Richtung Wollishofen. Die Linie ist das Ziel, denn im Tram kann man sehr gut nachdenken.
Text: Patrick Frey (aus dem Buch «Unterwegs mit Alberto Venzago» aus dem Jahre 2007)
Bilder: Daniel Soldenhoff
Neben mir sitzt ein weisshaariger Herr mit getönter Brille und versucht das 20-Minuten-Kreuzworträtsel zu lösen. Er schreibt kein einziges Wort. Kurz vor Morgental schlägt er die Zeitung zu und wirft mir beim Aussteigen einen bösen Blick zu. Als wäre er ein Kontrolleur. Ein Freund von mir, Komiker von Beruf, bemerkte kürzlich, die VBZ-Kontrolleure und überhaupt das Trampersonal seien generell viel kundenfreundlicher geworden. Sie warten jetzt auch viel häufiger, wenn sie sehen, wie jemand auf die Haltestelle zurennt, sagte er. Ich kenne beide Sorten VBZler, sagte ich, sehr nette und sehr erbarmungslose. Das ist vielleicht, weil die dich kennen, meinte er. Stell dir vor, dieser Tramführer hat gerade eine satirische Bemerkung von dir über das Thema Sturmgewehr oder Sterbehilfe gelesen und hat es nicht lustig gefunden. Und vielleicht wählt der rechts und denkt, dem zeig ichs jetzt mal, diesem Cüpli-Sozialisten.
Also ich glaube nicht, dass Tramführer solche Dinge denken, und Tramführerinnen schon gar nicht. Und an sich müssten VBZler eher links wählen, die Rechten wollen ja den Staat runtersparen. So wie der FDPler auf dem Wahlplakat an der Tramendschlaufe Wollishofen, der vor einem Schweizer Kreuz posiert, das sogar noch grösser ist als das Schweizer Kreuz auf den Plakaten der Schweizer Demokraten. Beim Zurückfahren Richtung Stettbach denke ich: Wenn B. doch recht hat, dann würden die netten VBZler wohl nur auf mich warten, weil sie eine Schwäche für Promis haben. Vielleicht müsste ich das testen. Zum Beispiel, indem ich mich als Penner verkleide, mir einen verwahrlosten alten Hund miete und dann im genau richtigen Moment vom Billoweg her über die Strasse humple und dabei der Tramführerin verzweifelt mit der Beaujolaisflasche zuwinke. Aber Penner in Wollishofen sind eher Mangelware. Und deshalb wohl auch bekannt beim VBZ-Personal. Dann halt umgekehrt: Wenn wieder mal ein Tram netterweise auf mich wartet, sage ich nicht nur danke vielmal, sondern stelle mutig die Frage: Haben Sie auf mich gewartet, weil Sie mich kennen oder einfach nur so, aus Menschenliebe? Und er oder sie müsste dann den Mut haben, ehrlich zu antworten.
Als wir so durch die Bahnhofstrasse gondeln, sagt ein älterer Herr hinter mir zu seiner Begleiterin: «Muesch du grad ga? Oder wotsch no en Kafi?» Sie: «Jaa, werum nöd… mues ja ersch am vieri uf de Zuug… aber ich nimm kän Kafi! Villicht es Schwepps.» Er: «Ah, ja guet, es Schnäpsli, da mach i mit!» Sie: «Nei, doch nöd en Schnaps! Am halbi zwölfi! Es Schwepps!» Er: «Was? Aha.»
«Und ein wenig falle ich aus der Zeit, denn ich reise mit dem pünktlichsten Nahverkehrsmittel der Welt.»
Und schon rattert und kreischt es Richtung Schaffhauserplatz. Ich reise mit dem Tram, ich reise in der Zeit. Und ein wenig falle ich aus der Zeit, denn ich reise mit dem pünktlichsten Nahverkehrsmittel der Welt und habe keinen Termin. Wie eine Kreuzfahrt auf Schienen. VBZ in den Randzeiten ist wunderbar.
Bereits viermal wohnte ich bisher an der Linie 7, zuerst im Hochparterre am Schaffhauserplatz, wo ich mich vom Tram wecken liess, dann 1981 am Tessinerplatz, halblegal im Dachstock des Agfa-Hauses, wo man aufpassen musste, dass man nicht überfahren wurde, so nahe führten die Schienen an der Haustür vorbei. Das Agfa-Haus war eines der schönsten Gebäude, die in Zürich je abgerissen wurden, neben uns standen zwei besetzte Häuser, in einem davon kam das Kino Xenix zur Welt, und im letzten Sommer dieser Häuser verwandelten schwindelfreie Kollegen die Fassade in ein Züriwappen, was farblich hervorragend zu den Trams passte. Und dann brannte der Dachstock lichterloh, und keiner wusste warum, das war dann kurz vor dem Ende, und ich zog in den Kreis 5. Aber die 7 blieb meine Schicksalslinie. Tief unter dem Tierspital, wo das heimelige Ächzen und Quietschen in ein metropolitanes Dröhnen übergeht, sagt einer ins Handy: «Ja, das isch äh, am Mittwuch… heisst ewigi Liebi. Fangt am halbi siebni aa… Bahnhof Oerlike wär guet. Keis Problem.» Und kurz vor Bahnhof Stettbach wird eine andere Liebe per Handy beendet: «Morn? Weiss nonig nei… Nei, bitte lüüt mer nüme aa, schick eifach es SMS wänn du… nei, ich chan jetz nöd, schick bitte nur SMS und ja äh… Tschüss.»
Und dann steht das Tram eine Weile still, so wie die Zeit an allen Tramendschlaufen. Die Herbstsonne wärmt das Blech der Velounterstände, und man riecht den Stadtrand. Eine alte Scheune steht da wie vergessen. Neben dem Stand mit den Sonnenblumen steht eine Frau mit schwarzen Blüten auf weissen Hosen und hält einen Dalmatiner an der Leine. «Wie gaats, Walti?», fragt jemand neben mir. «So so la la», sagt Walti und sieht auch so aus. Und dann gibt es einen Ruck, und es geht wieder zurück nach Wollishofen.
Über den Autoren
Patrick Frey ist Verleger, Schauspieler und Moderator und lebt in Zürich. Seit 1977 schreibt er über Gegenwartskunst, Fotografie, Werbung und Phänomene der Alltagskultur.