Ein Fachbeirat bestehend aus Claudio Büchel, Dozent für Raum- und Verkehrsplanung und neu Leiter Angebot der Verkehrsbetriebe Glattal AG, Martin Buck, Inhaber und Geschäftsführer der auf Fragestellungen rund um die Planung von Verkehrsinfrastrukturprojekten spezialisierten contraf ag, und Alain Groff, Leiter Mobilität des Bau- und Verkehrsdepartements Basel-Stadt haben das Generationenprojekt Netzentwicklungsstrategie 2040 begleitet. Im Interview zeigen sie sich beeindruckt von der Breite und Tiefe dieses Projekts, das dem ÖV in Stadt und Agglomeration eine neue Dimension erschliesst.
Herr Büchel, Herr Buck, Herr Groff, Ihre Rolle war die eines Sparringpartners einer breit aufgestellten Projektorganisation, die den öffentlichen Verkehr in Stadt und Agglomeration Zürich neu denken konnte. Wie haben Sie diesen Prozess erlebt und was haben Sie als erfahrene Verkehrsexperten dabei allenfalls auch gelernt?
Claudio Büchel: Ich habe ein Projekt erlebt, in welchem alle Beteiligten während der gesamten Bearbeitungszeit sehr interessiert waren an den Meinungen der anderen. Alle wollten ganz bewusst den Fächer weit auf machen, um neue Erkenntnisse zu erhalten. Ich persönlich habe dabei gelernt, dass die aus der Architektur und dem Städtebau bekannte «Testplanung» sich durchaus auch für verkehrsplanerische Fragen anwenden lassen kann.
«Alle wollten ganz bewusst den Fächer weit aufmachen, um neue Erkenntnisse zu erhalten»
Claudio Büchel, Leiter Angebot, Verkehrsbetriebe Glatattal AG
Martin Buck: Der offene und breit angelegte Planungsprozess der NES 2040 mit einer ebenso breit abgestützten Begleitung entspricht auf der einen Seite einer zeitgemässen Herangehensweise bei Planungsfragen dieser Tragweite und mit solchen Langfristwirkungen hinsichtlich Kosten und Mobilitätsentwicklung. Andererseits beinhalten die zahlreichen involvierten Beteiligten und Gremien auch die Herausforderung, dass das jeweilige Rollenverständnis möglichst klar und geschärft sein muss. Im Fachbeirat ging es primär um die grossen fachlichen Linien bei der Entwicklung der NES 2040 – gleichwohl wurden auch angeregte Diskussionen zu spezifischen Planungsschritten und -ergebnissen geführt, die durchaus lehrreich waren.
Besonders erkenntnisreich zeigte sich der Umgang mit dem Spannungsfeld, einerseits ein gut etabliertes öV-Angebot, wie es Zürich aufweist, mit Umsicht weiterzuentwickeln und andererseits die sich abzeichnenden Mobilitäts- und Angebotstrends im öV in möglichst sachgerechter Weise zu antizipieren.
Alain Groff: Ich habe den Prozess als sehr strukturiert und professionell geführt erlebt. Von den grossen strategischen Überlegungen hin zu den konkreten Netzentwicklungsschritten bewegte sich das Projekt in nachvollziehbaren Etappen. Als Fachbeirat haben wir von den vertieften und aufwändigen Arbeiten nur einen Teil gesehen. Ich habe fachlich wie methodisch einiges lernen dürfen. Gerade die ersten Arbeitsschritte, als der Fächer der Lösungsansätze noch sehr weit geöffnet war, fand ich sehr inspirierend. Etwa zeigte sich für mich das doch eher eingeschränkte Potenzial von On Demand-Angeboten im Vergleich zu den herkömmlichen, stabilen, verständlichen Liniennetzen mit fixen Haltestellen und verlässlichen Fahrplänen.
«Für mich zeigte sich das doch eher eingeschränkte Potenzial von On-Demand-Angeboten im Vergleich zu den herkömmlichen Liniennetzen mit verlässlichen Fahrplänen.»
Alain Groff, Leiter Mobilität, Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt
Spannend fand ich auch die Erkenntnis, dass es wertvoll ist, die Endstation einer Tramlinie an einem wichtigen Knotenpunkt anzuordnen, da dies dazu beiträgt, dass die Fahrzeuge auch auf dem letzten Abschnitt der Linie gut ausgelastet sind. Methodisch habe ich u.a. gelernt, wie strukturierte Diskussionen in Kleingruppen als Videokonferenz durchgeführt werden können.
Ein Netz zu entwickeln, im Fall der VBZ einen Paradigmenwechsel weg vom Sternförmig auf die Innenstadt ausgerichteten Netz hin zu einem Ringnetz einzuleiten, ist kein 0815-Vorhaben. Was sind aus ihrer Sicht, Claudio Büchel, der Sie die VBZ als Gebietsmanager einst kennengelernt und dann später als Professor und Dozent für Verkehrsplanung Studierende ausgebildet hat, die Besonderheiten eines solchen Unterfangens?
Claudio Büchel: Mit der Planung von neuen Tramstrecken ausserhalb des klassischen Zentrums rücken ganz neue Stadträume in den Fokus. Auf den grossen Einfallachsen ist es heute ganz verständlich, dass Tramgleise liegen. Nun stehen auch tangentiale Strassen zur Diskussion. Hier ist es wichtig, aufzeigen zu können, wie der künftige Strassenraum mit Tram aussehen könnte, damit die Bevölkerung sich mit den Planungen auseinandersetzen kann.
Als jemand der in Zürich lebt und arbeitet bringen Sie, Martin Buck, auch die Sicht des VBZ-Nutzers in ein solches Projekt ein. Darüber hinaus sind Sie an verschiedenen Projekten der Stadt Zürich beteiligt, kennen die hiesige Situation also sehr gut. Worin sehen Sie die Stärke des Weges, den die VBZ mit der NES 2040 einschlagen?
Martin Buck: Die NES 2040 ist ja ein Plan zur Entwicklung des öV-Angebots, der für den heutigen und künftigen Handlungsbedarf im öV-Netz Lösungsansätze zeigt. Eine Stärke sehe ich darin, dass der Umgang mit Engpässen z.B. beim HB/Central und die Reaktion auf den absehbaren Mobilitätszuwachs aufgrund der Siedlungsentwicklung in Zürich West/Nord oder in der Lengg spezifisch adressiert werden. Dass langfristig neue Tramtangenten vorgeschlagen werden, erscheint deshalb trotz der hohen Kosten als folgerichtig.
«Dass langfristig neue Tramtangenten vorgeschlagen werden, erscheint trotz der hohen Kosten folgerichtig.»
Martin Buck, Inhaber und Geschäftsführer contraf ag
Der skizzierte Umsetzungspfad mit mehreren Etappen erstreckt sich über einen sehr langen Zeitraum und beinhaltet insbesondere für die Etappen 2 und 3 entsprechende Unsicherheiten. Mit der Gliederung in Etappen lässt sich die NES 2040 je nach effektiver Entwicklung künftig auch nachjustieren, was ebenfalls eine Stärke ist.
Alain Groff, als Leiter des Amtes für Mobilität des Kantons Basel-Stadt bewegen Sie sich täglich im Spannungsfeld zwischen öffentlichen und politischen Interessen. Welche Situation haben Sie hier in Zürich und speziell im Rahmen dieses Projektes angetroffen?
Alain Groff: Die Interessenskonflikte sind grundsätzlich ähnlich. Die Erwartungen an den öffentlichen Verkehr als leistungsfähiges Rückgrat eines klimaschonenden Verkehrssystems steigen, gleichzeitig wächst der Druck, dass der ÖV mit weniger Fläche auskommt, seine Spuren mit Velos und Autos teilt und vermehrt mit Tempo 30 verkehrt. Andere Herausforderungen sind sehr unterschiedlich: Die Region Zürich verfügt seit über 30 Jahren über ein äusserst leistungsfähiges S-Bahnsystem und auch das Tram wurde als tragende Säule des Verkehrssystems konsequent ausgebaut, etwa im Glattal oder im Limmattal. Zürich entwickelt sich immer mehr zu einer multipolaren Stadt mit starken Subzentren insbesondere in Oerlikon und Altstetten. Das schafft Potenzial für starke tangentiale Verbindungen auch im Tram- bzw. Busnetz.
«Die Erwartungen an den ÖV als leistungsfähiges Rückgrat eines klimaschonenen Verkehrssystems steigen.»
Alain Groff, Leiter Mobilität, Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt
Im Raum Basel sind die Rahmenbedingungen aufgrund der räumlichen Enge und der durch die Kantons- und Landesgrenzen geprägten Entwicklung der Siedlungen und Verkehrsnetze nicht vergleichbar. Das S-Bahnnetz ist erst am Entstehen. Das Tramnetz ist zwar punktuell verbessert worden, braucht aber unbedingt kleine Ergänzungen, um leistungsfähiger und robuster zu werden.
Claudio Büchel, sie wechseln beruflich als Leiter Angebot zu den Verkehrsbetrieben Glattal, die Naht- und Schnittstellen zu den VBZ haben. Was bedeutet die NES 2040 mittel- und langfristig für den öffentlichen Verkehr in der Agglomeration Zürich?
Claudio Büchel: Die neuen Tramtangenten ergeben ganz neue Möglichkeiten für die Durchbindungen von Tramlinien. So könnten Linien aus dem Limmattal und dem Glattal auf die Tangenten geführt werden und so attraktive neue Direktverbindungen anbieten. Mit der NES 2040 liegt jetzt die Vorstellung der VBZ für die Zukunft vor – das ist eine gute Grundlage, um die zahlreichen Schnittstellen zwischen den Netzen von VBZ und VBG weiterzuentwickeln.
«Die neuen Tramtangenten ergeben ganz neue Möglichkeiten für die Durchbindung von Tramlinien.»
Claudio Büchel Leiter Angebot, Verkehrsbetriebe Glattal AG
Martin Buck, als Kulturingenieur und Verkehrsplaner haben sie Erfahrungen aus verschiedenen solchen Entwicklungs- und Erschliessungsprojekten. Was macht die NES 2040 aus Ihrer Sicht besonders?
Martin Buck: Hervorheben lässt sich sicher die breit angelegte erste Phase der NES 2040 (Studienauftrag), in welcher verschiedene Szenarien durch kompetente Fachplaner in aller Ernsthaftigkeit vertieft und daraus ein Zukunftsbild 2050 hergeleitet wurde. Dabei wurden auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Mobilitäts- und Angebotstrends beachtet und daraus Folgerungen für die NES abgeleitet.
«Die breit angelegte erste Phase bildet das solide planerische Fundament für die nun vorliegende Netzentwicklung 2040.»
Martin Buck, Inhaber und Geschäftsführer contraf ag
Diese wichtigen Vorarbeiten bilden das erforderliche und auch solide planerische Fundament für die nun vorliegende NES 2040. Weiter erachte ich den Konkretisierungsgrad der ersten Umsetzungsetappe 2040 als bemerkenswert, auch wenn noch Einiges an Vertiefungsarbeiten erforderlich sein wird.
Alain Groff, als Leiter des Amts für Mobilität beschäftigen Sie sich in Basel mit ganz ähnlichen Herausforderungen, wie sie sich den VBZ bei der NES 2040 stellten. Was nehmen Sie aus diesem Projekt mit nach Basel?
Alain Groff: In Basel liegen einige Projekte für die Weiterentwicklung des Tramnetzes auf dem Tisch, aber es ist noch nicht absehbar ob und wann sie eine politische Mehrheit finden. Ich habe bei der VBZ einen starken Willen gespürt das System fit zu halten für die Zukunft. Dieses Engagement beeindruckt mich und ich werde mein Möglichstes tun, dass auch in Basel die Zukunft des ÖV mit Herzblut an die Hand genommen wird.
Meine Herren, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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