In den vergangenen fünf Wochen wurde das arme Bellevue beschimpft wie wohl noch nie in seiner langen Geschichte und Tradition. Grund dafür – logo – war die Riesenbaustelle, die den Tramverkehr an diesem vielleicht wichtigsten Zürcher Verkehrsknotenpunkt ausser Kraft setzte.
Seit Samstag und damit pünktlich zum Ende der Sommerferien ist der Normalzustand wieder hergestellt (okay, sagen wir: mehr oder weniger), und die hübschen blauen Tramwagen können wieder über die vielen Dutzend Bellevue-Geleise rollen. Dennoch wirkt der eigentlich kräftige und mächtige Platz (der ja nicht nur von seiner ausufernden Form her immer schon viel mehr war als bloss ein Platz) irgendwie noch immer etwas «verschupft», verstört und verunsichert; die massive Kritik hat offensichtlich Spuren hinterlassen.
Das darf und soll nicht sein! Zürich braucht ein Bellevue in Bestform, nicht allein aus touristischer Sicht. Aus diesem Grund sei ihm (eben, dem seelisch havarierten Bellevue) nun mit viel Liebe und Nachdruck aufgezeigt, wie enorm wichtig es immer schon war und bis heute geblieben ist – zumindest für das Leben des Mannes, der diese Zeilen hier schreibt. Eine kleine Hommage in zehn Stationen:
- Im Kino Bellevue – es befand sich ziemlich genau da, wo sich heute das schicke Café Felix befindet – habe ich als «Pfüdi» im Beisein des Grossmamis oder der Eltern all jene Filme gesehen, die mich später zu jenem ein wenig seltsamen, irgendwie schüchternen, aber letztlich doch gar nicht so missratenen Menschen machten (oder «sozialisierten», wie es wissenschaftlicher heisst), der ich heute bin: «Herbie» und «Herbie gross in Fahrt», «Mary Poppins», «Der Schatz im Silbersee», «Bambi», «101 Dalmatiner», «Das Dschungelbuch», «Susi und Strolch», «Robin Hood», «Dick und Doof – die Tanzmeister».
- Als ich in Wollishofen in die erste Sekundarschule ging, fanden rund ums Bellevue die «Opernhauskrawalle» statt. Ein Schüler aus der dritten Sek, der mir als Vorbild damals sehr geeignet schien, nahm mich eines Samstags mit an eine solche Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen und der Polizei. Blöderweise geriet ich dann in die Schusslinie, ein knallhartes Gummigeschoss traf mich mitten im Gesicht. Was einen ziemlich grossen, blau-gelb-grün-violetten Fleck hinterliess – der mir im Schulhaus knapp eine Woche lang einen gewissen Heldenstatus bescherte.
- Später, als ich das KV absolvierte, war es in meinem Freundeskreis voll angesagt, am Samstagabend ins Mascotte zu gehen. Der Club war damals okay, nicht so übel wie später, als er zur grotesken «Villa Wahnsinn» umfunktioniert wurde, aber längst nicht so hip wie heute. Aus diesem Grund gab es ab und zu Slowtime-Musik. Zum Beispiel das Stück «Careless Whisper» von Wham. 6:30 Minuten Sülze pur. Und doch habe ich zu diesem Song einen kleinen Teil meiner Schüchternheit verloren – indem ich dazu mit einer jungen Frau das erste Mal in meinem Leben geschlossen tanzte.
- Ungefähr zur selben Zeit sass ich mal im Odeon, einer Legende von Literatencafé, wo schon die Dadaisten zusammen Bier getrunken hatten. Und später auch Dürrenmatt und Frisch, bevor sie rüber in die Kronenhalle zum Znacht oder zum Schnaps gingen. Ich sass also da, trank ein Coci, und dann kam Max Frisch herein. Sah sich im Lokal um, streifte kurz meinen Blick und sagte «Grüezi». Ein kleines Wort mit grosser Wirkung! Meine bisherigen Idole aus dem Fussballsport und dem Popmusikbusiness kamen mir plötzlich total belanglos vor; ich wandte mich bald mehr und mehr von ihnen ab, begann viel zu lesen, ging rege ins Kunsthaus und ab und zu ins Theater. Heute, aus grosser Distanz, würde ich sagen: Das war definitiv nicht zu meinem Nachteil.
- Jahre später, es war gegen Ende der 80er-Jahre, verkaufte ich rund ums Bellevue das Stadtmagazin «Nizza». Es war kein einträgliches Geschäft, das Heftli war zwar gut gemacht, aber es verfehlte sein Publikum; ich wurde oft ignoriert oder sogar mit blöden Sprüchen eingedeckt. Das haute mich zwar anfangs fast um, auf lange Sicht aber machte es mich getreu dem Sprichwort wahrhaftig stärker. Und so heuerte ich bald darauf als Nachtverkäufer des «Tages-Anzeigers» an, stand mehrmals in der Woche ab 23.30 Uhr mitten im Hauptbahnhof und erlebte dabei dramatische, schräge und hochemotionale Dinge, die mein Dasein enorm bereicherten – und die mir vor allem die wichtige Portion Demut mit auf den weiteren Weg gaben.
- Am Bellevue gibt es ja diesen Brunnen, bei dem das Wasser aus dem Munde eines Fisches in den Trog plätschert. In den 90er-Jahren ging das Gerede, dieses Wasser sei ungeniessbar weil irgendwie kontaminiert. Und so hauchte ich in jenen Tagen der Liebe meines Lebens den folgenden, beinahe märchenhaften Satz ins Ohr: «In dem Moment, in dem ich Dir gestatte, von diesem Brunnen zu trinken, weisst Du, dass unsere Beziehung vorbei ist.» Sie schaute mich an, schmiegte sich an mich, und wir wussten: Soweit würde es nie kommen. Es kam tatsächlich nie soweit, dennoch waren wir irgendwann nicht mehr zusammen – und ich sagte denselben Satz Jahre später meiner nächsten Liebe des Lebens. Und ein paar Jahre später nochmals. Seither lass ich es bleiben, da ich denke, dass das irgendwie nicht wirklich gut herauskommt.
- Als ich eines Herbstes nach Monaten harter Arbeit und völlig am Ende meiner Kräfte zur Entspannung nach Locarno fuhr, musste ich mich spontan zwischen zwei schlichten Hotels entscheiden, alle anderen Häuser waren ausgebucht. Das eine hiess (glaub) «Garni irgendwas», das andere hiess zweifellos «Bellavista». Ich nahm ein Einzelzimmer im «Bellavista», weil das auf Italienisch dasselbe heisst wie Bellevue, und weil ich mit dem Bellevue abgesehen von einem Gummigeschoss nur schöne Erinnerungen verband. Auch wenn ich seither in vielen grösseren und renommierten Hotels übernachtet habe – so erholsam, romantisch und verträumt wie da im «Bellavista» wars nie mehr.
- Anno 2005 wurde ich als inzwischen vollamtlicher Journalist an den Opernball beordert, obwohl ich mich mit Händen und Füssen (oder ehrlicherweise: mit allen Arten von Ausreden) dagegen zu wehren versuchte. Der Abend wurde wie erwartet zur reinen Pein: Das Essen war nicht besonders, mein Anzug sass schlecht, die Pepe-Lienhard-Band spielte, und ich erkannte die Promis nicht, obwohl ich über sie hätte schreiben müssen. Irgendwann im Verlauf des Abends kaufte ich dann ein paar Tombola-Lose, unter anderem war die 509 dabei. Und irgendwann im weiteren Verlauf des Abends wurden dann die Siegesnummern gezogen, von Fiona Hefti, der damaligen Miss Schweiz. Als es zum Hauptpreis kam – ein Kilo Gold – flötete Hefti ins Mikrofon: «Fünfhundertneun . . .» – mein Puls pochte, ich wurde sch(w)eissrot und war bereits am Aufstehen – «. . . zehn!». Mist. Vielleicht wäre mein Leben ganz anders verlaufen, hätte ich gewonnen – Gold war damals nämlich noch richtig was wert.
- Ein oder zwei Jahre später ging ich das erste Mal mit Freunden ans Sechseläuten, oder genauer: Zum feurigen Haufen, der vom Böögg nach dem Umritt der Zünfte übrigbleibt, und wo die «Arbeiterschicht» (jaja, ein bisschen Sozialromantik darf sein) auf der Kohle der Bourgeoise ihre Würste brutzelt. Aus Jux nahm ich meinen Batterie-betriebenen Plastikplattenspieler und einen Sack voll Vinyl mit. Zuerst sassen wir zu dritt um das lustig scheppernde kleine Musikgerät, tranken Bier und mampften Fleischwaren. Zwei Stunden später tanzte plötzlich eine fidele und voll abgehende Hundertschaft um den Plattenspieler, und irgendwann sagte Einer: «Das ist krasser als jede Goa-Party, weil es viel politischer ist!» Leider waren die Vinylplatten bald mal so voller Kohlestaub, dass nichts mehr ging. Dennoch: Ein irreres «DJ-Set» habe ich seither nie mehr hingekriegt.
- Braucht es einen Punkt 10? Eigentlich nicht. Ein zärtlich gehauchtes und leicht kitschiges «Oh Bellevue, mon amour pour toujours!» tuts zum Schluss doch auch.