Zwei Fundbüros finden sich

Eines nimmt Emotionen entgegen, das andere Gegenstände. Ob der Unterschied wirklich so simpel ist, dem sind die Initianten des soziokulturellen Projekts «Fundbüro2» im öffentlichen Austausch mit dem städtischen Fundbüro nachgegangen – mit überraschenden Erkenntnissen.

Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihren Laptop verloren und mit ihm wertvolle Daten: Wichtige Geschäftskontakte und private Mails, deren Inhalte Ihr Herz höher schlagen liessen. Wie fühlen Sie sich? Vielleicht ein bisschen emotional? Eventuell aber spielen Geschäftsmails keine Rolle mehr, denn der blaue Brief ist hereingeflattert – analog, in den Briefkasten –, und persönliche Zuschriften sind auch passé, denn die Liebe, die hat sich ebenfalls verabschiedet. Für beide Situationen gibt es ein Fundbüro.

Gerade mal 72 Meter Luftweg liegen laut Google Maps zwischen den beiden Fundbüros, deren grösster Unterschied darin besteht, ob die verlorenen oder gefundenen Dinge in die Hand genommen werden können oder nicht. Letzteres, das «Fundbüro2», feierte am 6. Juli sein halbjähriges, übrigens sehr erfolgreiches Bestehen. Rund 300 Meldungen sind seit dem Tag der Eröffnung eingegangen. Solche, die ans Herz gehen, erheitern, zum Nachdenken anregen oder bestürzen. Die konnte man sich am Jubiläumsfest anhören und weitere Meldungen beisteuern. Am Festtag traf denn das soziokulturellen Projekt «Fundbüro2» auch auf das städtische Bruder- oder Schwesterunternehmen um die Ecke: Die Initiatoren Andrea Keller und Patrick Bolle sowie die Moderatorin Conny Brügger tauschten mit dem stellvertretenden Leiter des städtischen Fundbüros, Martin Sutter, öffentlich ihre Erfahrungen aus.

Begründete Hoffnung bei den Gegenständen

Zum Auftakt des Gesprächs bringt Sutter jenen Kraftstoff aufs Tischchen des Pavillons, der beide Büros am Laufen hält: Die Hoffnung. Selbige wird im alteingesessenen Amt handfest bedient – die Chancen, das verlorene Gut zurückzuerhalten, sind hoch. Sogar, wenn es sich dabei um einen Koffer mit 50‘000 Euro handelt – schon vorgekommen, Ehrenwort. Grosse Hoffnung besteht natürlich auch für jenen Herrn, der im Herzen des Werdmühleplatzes den Verlust seiner Erinnerung an die vierte Staffel von «Walking Dead» vermeldete. Diese Lücke schliesst dann aber eher Netflix, nicht das «Fundbüro2». Dessen Aufgabe ist nämlich keineswegs, zu helfen oder eine Lösung herbeizuführen. Es ist eine Einladung zur Reflexion.

Apropos Reflexion: Von all den eingegangenen Meldungen seien drei Viertel schmerzhafter Natur, zieht Kulturmanager Bolle Bilanz. Auch Sutter wird mit Emotionen konfrontiert: Durch welche Hölle eine 80-jährige Dame gegangen sein müsse, ehe sie ihre verlorene Handtasche wieder erhielt, sei offenkundig geworden, als sie bei deren Erhalt in Tränen der Erleichterung ausbrach. Der materielle Wert ist dabei oft sekundär: «Für eine Zweijährige ist ein Plüschbär sehr wertvoll. Auch für das 17-jährige ‹Mädi›, das vor dem Weekend sein Handy verliert, bricht temporär eine Welt zusammen.». Manche Verluste bereiten aber auch Freude: Als ein fünfjähriges Mädchen seine Angst vor dem Gang in den Keller verlor, hat es sich definitiv gefreut.

«Die Leute reden erst, wenn man nichts sagt.»

Freude, Angst und dazwischen die ganze Klaviatur der Emotionen: «Wir sind keine Psychologen», hält Bolle fest, «eigentlich ist der Ablauf sehr trocken. Wir lassen uns den Gegenstand des Verlustes genau beschreiben, machen keine Kommentare, kein ‹oh je›, ‹jöh› oder ‹ui nei›, wir erteilen auch keine Ratschläge. Die Kunst ist es, Distanz zu wahren und dennoch empathisch zu sein. Die Leute reden erst, wenn man nichts sagt. Wahrscheinlich sind wir einiges trockener als ihr» – er wirft Sutter den Ball zu: «Das sind wir tatsächlich nicht», schüttelt dieser den Kopf. Oft bitte man die mit aufkeimender Panik gebeutelten Leute erst mal, sich zu setzen, reiche ein Glas Wasser. Die Aussage «Ihr seid meine letzte Hoffnung», ist ein oft gehörter Satz.

Eine Mehrzahl der Meldungen stamme von Leuten ab der Lebensmitte, weiss Bolle. Mit zunehmender Jahreszahl verliere man scheinbar mehr. Die Gesundheit und Vitalität beispielsweise. «Im Alter wird alles etwas schwerer. Man bleibt, bis zu einem bestimmten Rest, verzweifelt im Leben – da mache ich mir keine Hoffnungen»: So hört es sich an, wenn ein Fundbüro-Gründer selbst ins Grübeln gerät.

Die Poesie des Schmerzes

«Vor allem schmerzhafte Verluste werden oft sehr poetisch umschrieben», sinniert Bolle. Auch im städtischen Fundbüro hat das Projekt berührt. «In unserem Fundbüro halten die freudigen Emotionen vielleicht zehn Minuten an, dann kehrt der Alltag wieder ein. Werden aber Liebe und Hoffnung gefunden, ist das viel einschneidender», meint Sutter nachdenklich. Viel Einigkeit und gemeinsame Freude also. Trotzdem wird man den Initiator des «Fundbüro2» nie im Büro um die Ecke arbeiten sehen: «Mich würde all diese Ware im Rücken beelenden, die würde mich nachts in den Träumen verfolgen», schüttelt er lachend den Kopf.

Eine Publikumsfrage noch zum Schluss: «Gibt es im Fundbüro eigentlich auch Übereinstimmungen unter den Verlust- und Fundmeldungen?». Nun, es gab schon zwei Beispiele, bei denen ein Kontakt zwischen den beiden «Kunden» hergestellt werden konnte. Meist aber sind die Geschichten so einzigartig wie die Menschen, die sie vortragen.

Ein Selbstversuch

An dieser Stelle nun könnte der Artikel zu Ende sein, aber natürlich liess ich es mir nicht nehmen, selbst eine Meldung aufzugeben. Über den Inhalt wollen wir den Mantel des Stillschweigens ausbreiten, nur soviel sei gesagt: Die Wahl fiel nicht auf irgendein Gugus-Thema, sondern wenn schon, denn schon, eines, das an Herz und Nieren geht.

Da steh ich also am Schalter, auf mir ruht der Blick einer Vertrauen erweckenden Dame mit modisch strenger Brille und schwarzem Haar – Katja Alves, die Autorin. Ich fühl mich ein bisschen komisch, meine emotional gefärbten Verluste zu vermelden.

Die «Schalterbeamtin» tippt meine Meldung in den PC, fragt freundlich, ob ich die Angelegenheit näher beschreiben könne. Ich finde auf Anhieb mehrere Begriffe für die Sache, derer ich verlustig gegangen bin, sie tippt, ich spüre diesen Knoten im Hals, aber: Contenance! Sie wendet sich mir wieder zu, um nachzufragen, wie es zu dem Verlust kam. Ich bin gezwungen, knapp und präzis jene Umstände zu schildern. Dennoch werde ich nicht gedrängt, bekomme Zeit, die Gedanken zu ordnen und auszuformulieren. Plötzlich kann ich sehr genau benennen, worum es sich – auf den Punkt gebracht – handelt. Sie tippt, blickt auf, fragt nach, wann ich es verloren hatte. Es läuft so ab, als ginge es um meine Brieftasche – nur die Ausstrahlung der Frau bringt eine Wärme mit ins Spiel. Die Atmosphäre hat mich entspannt, jetzt wähle ich den Verlustort aus einer Liste. Zum Abschluss werde ich gefragt, ob ich informiert werden wolle, falls jemand die verloren gegangene Sache finden sollte – ich lache herzlich, sage ja, «da bin ich ja mal gespannt». Nun ist es vorbei, ich gehe meiner Wege, etwas befreiter, wenn auch gleichermassen nachdenklich.

Fazit: Im «Fundbüro2» dränge ich mich niemanden auf, ich bin keine Zumutung, aber auch kein Patient: Keine Kommentare, keine Ratschläge, kein Urteil. Niemand will mich auf eine imaginäre Couch legen, niemand fällt mir ins Wort, um seine eigene, noch ärgere Geschichte loszuwerden. Hier sitzt jemand und hört einfach nur zu, notiert sich meine Worte und nimmt hin, dass es sowas gibt – ohne es zu bagatellisieren. Herrlich!!  Wäre schön, wenn der «Fundbüro2»-Ansatz im Alltag da und dort übernommen werden könnte, zumindest für eine Zeitspanne, wie sie das «Fundbüro2»  ebenfalls bietet. Ja, wir brauchen beide Fundbüros.

Die Fundbüros

Das «Fundbüro2« geht in die zweite Halbzeit und erwartet prominente Gast-«Kundschaft» aus verschiedenen Sparten wie Journalismus, Sport und Politik.   Zum Abschluss des Projekts wird nach Ende des Jahres ein Buch zusammengestellt, das eine Auswahl der im Fundbüro 2 eingegangenen Meldungen enthält. Erscheinen wird es im Verlaufe des Jahres 2018 im Rowohlt Verlag.     Mehr Infos dazu gibt's unter fundbuero2.ch   Im Fundbüro der VBZ nehmen wir freilich wie schon immer gefundene Gegenstände und Verlustmeldungen entgegen. 

 

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