Wie man eine Anti-Bibliothek baut

Tief im Keller der Bederstrasse 4 türmen sich saftige Schinken, schmackhafte Schwarten und süffige Schmöcker. Nein, hier ist nicht die Rede von einer Metzgerei, sondern von einer wahrhaftigen Goldmine. Auch nicht im wörtlichen Sinne gemeint, obwohl die Metapher besonders schlagend ist: Zwischen Perlen der Literatur und Groschenroman finden sowohl wählerische Literaturgourmets wie auch wissbegierige Büchergourmands in der Bücher-Brocky an der Zürcher Enge alles, was die Seele labt.

Aufmerksam auf den Bücher-Keller wird man nur durch die dubiose Beschriftung oberhalb des Kleiderladens Pasito, die da lautet: «100‘000 Bücher». Keine Angst, das ist keine gewiefte Falle für Bücherwürmer, sondern effektiv ein unterirdischer Secondhand-Bücherladen. Einzig das anglifizierte «y» am Ende des im Züridüütsch üblichen «Brocki» bleibt suspekt. Die Bücher-Brocky kennt ihre Kundschaft genau. Gleich eingangs steht eine Garderobe mit Schliessfächern. Denn eins ist gewiss: «Nur schnell reinschauen» kommt hier nicht in Frage.

Worin liegt der Unterschied zu einem normalen Bücherladen? Letztere seien ja bekanntlich vom Aussterben bedroht, und wenn man heutzutage ein bestimmtes Buch sucht, wird man online schneller fündig. Doch neue Bücher haben die Welt noch nicht gesehen. Sie geben nur das wörtlich gedruckte Wissen zwischen ihren Seiten her. Keine Kaffeeringe, Tintenflecken zur Psychoanalyse, keine Eselsohren und keine persönliche Widmungen. Keine Kommentare von frustrierten Maturanden entlang der Seitenränder. In der Ausgabe von Herman Hesses «Steppenwolf» von 1952 dient eine Seite aus der NZZ vom selben Jahr als Lesezeichen. Das Buch an sich erzählt eine Lebensgeschichte.

Wer die Bücher-Brocky unvoreingenommen besucht, dem ist ein Stück weit auch der Zufall hold. Die Publikationen sind zwar anhand der gesamten Bandbreite des menschlichen Wissens katalogisiert. Sucht man ein bestimmtes Thema oder gar einen Autoren, wird man hier fündig. Doch zwischen den Regalen stehen Papiersäcke mit Büchern. Ein scheuer Blick ins Büro verrät, dass sich auch hier die Wälzer türmen. Ordnung und Chaos hängen in der Schwebe.

In der Heterotopie der Bücher-Brocky existiert «Die Welt als Wille und Vorstellung» in derselben Realität wie «50 Tipps für Meerschweinchen» und alle Staffeln von «Friends», dramatisch untermalt von Dvořáks neunter Sinfonie. Buchdeckel reihen sich aneinander, Wissen schwappt über, geteilt wie ein indirekter Kuss. Hamlets Vater spukt bei Harry Potter, Winnetou und Kommissar Wallander sagen sich gute Nacht.

Bequem ist das Bücher-Brocky nicht. Wieso auch, es ist ein Keller. Aber man kann es sich bequem machen: Ein Kunde packt einen faltbaren Stuhl aus und arbeitet sich so von Gestell zu Gestell. Zwischen den Reihen von Regalen, umgeben von bunten Bücherrücken, spürt man die Kälte nicht mehr. Der Geruch von alten Schmökern benebelt die Sinne wie Weihrauch, und man verliert sich. Jetzt bin ich Zeitreisende, der Bücherkeller ist mein Portal, in dem ich von einer Dimension in die nächste springe.

Früher, das heisst vor dem 18. Jahrhundert, war das Lesen als müssiger Zeitvertreib noch verpönt. In einer Zeit, wo Wissenschaft noch unter Verdacht des Okkulten stand, waren Bücherliebhabende ein beliebtes Vanitas-Motiv, um die Vergänglichkeit irdischen Wissens darzustellen. Demnach kommt der «Büchernarr» als Beispiel eines törichten Büchersammlers, der seine Bücher nicht liest, in Sebastian Brants Narrenschiff von 1449 vor. Dort heisst es: «Im Narrentanz voran ich gehe, da ich viele Bücher um mich sehe, die ich nicht lese und verstehe».

Im «Narrenschiff» werden Bücherliebhaber auf die Schippe genommen. | Bild: Uni Würzburg

Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Bibliophilie hingegen zur Tugend der gebildeten Klassen, und eine gut ausgestattete Bibliothek galt als Statussymbol. Wer aber seine Leidenschaft für Bücher nicht im Zaum halten konnte, wurde, so der medizinische Fachbegriff, zum Bibliomanen. Wie das jüngste Beispiel eines Beamten aus Dortmund, der sich eine Sammlung von 24 000 Büchern aus Bibliotheken von ganz Europa zusammengeklaut hatte, weil seine Sammellust nicht zu stillen war.

Auch ich muss mich zusammennehmen, um nicht mehr als zwei Bücher – die Limite, die ich mir prophylaktisch im Vorfeld meines Besuches gesetzt habe – in meinen Korb zu legen. Mein Dilemma: Die Regale mit ungelesenen Büchern sind bei mir zu Hause in der Überzahl. Ich tröste meinen Sammeldrang damit, dass ich wenigstens nicht alleine mit diesem Problem bin. Zumindest in Japan scheint dieses Phänomen verbreitetet genug zu sein, um eigens dafür ein Begriff zu erfinden. Tsundoku (積ん読) steht für die Akkumulation ungelesener Publikationen in einem solchen Mass, dass selbst die Bücherwürmer mit dem Lesen nicht mehr nachkommen.

Angesichts meines eigenen Sammeldrangs tröstet mich das Beispiel des italienischen Schriftstellers Umberto Eco. Er selber habe sich eine beeindruckende persönliche Bibliothek zusammengesammelt. Aber dass er diese zu Lebzeiten nicht alle lesen würde, hat ihn nie besonders gestört. Die ungelesenen Titel formen gemäss dem philosophischem Essayist Nassim Nicholas Taleb, ein enger Freund von Eco, quasi eine Anti-Bibliothek – und je mehr man sich für die Welt um sich interessiert, desto grösser wird die Schar ungelesener Titel. Kurzum: Eine grosse Anzahl von ungelesenen Bücher inspirieren den Wissensdurst.

Zwei Stunden später bin ich auf dem Heimweg, um meine eigene Anti-Bibliothek um drei Bücher zu erweitern.

Zürich liest 2018

Seit 2001 wird Zürich im Herbst zum offenen Buch. Vom 24. bis 28. Oktober 2018 wird in Zürich und Winterthur überall geschmökert, geblättert, vorgelesen, zugehört, leise geflüstert und laut diskutiert. Mutige Zuhörerinnen und Zuhörer begeben sich am Wochenende vom 27. und den 28. Oktober ins Krimitram für eine spannungsgeladene Fahrt durch Fantasie und Fiktion. Genaueres zum Programm der VBZ an «Zürich liest» finden Sie hier unter der Rubrik «Extrafahrten-Haltestelle Bellevue». Tickets sind auf Starticket erhältlich.

 

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