Wer keine Bürokratie mag, sitzt in der Gepäckablage

Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Zürichs Herz schlage im Takt der VBZ. Das ist ein schönes Kompliment – wie sehr die Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs dieser Stadt geschätzt wird. Wie aber ist das in anderen Grossstädten dieser Welt? Sind Busse, Trams, S- oder U-Bahnen dort ähnlich pünktlich und komfortabel wie bei uns? In einer losen Serie werden wir solche und ähnliche Fragen rund um den internationalen ÖV zu beantworten versuchen – durch persönliche Berichte von sogenannten «Sonderkorrespondenten». Heute schildert uns Natascha Klinger den Wahnsinn des indischen Zugreservations-Systems, und wie man dort so unterwegs ist.

Heutzutage will ja immer alles und jeder spontan sein. «Ich luägä dänn sponti vor Ort». Sorry meine lieben Spontanen, ich habe keine Ahnung, wie ihr das hinbekommt. Gerade in Zürich, wo ja immer alles, was irgendwie Spass macht, ruck-zuck ausverkauft ist, bekommt man ohne Reservation doch keinen Fuss vor den anderen. Aber auch im Ausland – und jetzt sind wir beim Thema ÖV angekommen – gehören Überraschungen à la «ahaaa, der Bus fährt nur einmal täglich, morgens um 6 Uhr, und ist jetzt weg» für mich persönlich nicht zu dem Tüpfelchen auf dem «i» im Wort «Ferien».

Dieses Mal wollen wir nach einer Hochzeitsfeier im indischen Kerala ohne Komplikationen weiter zur nächsten Destination. Aus eben jenem Grund beginnt meine Geschichte einer Zugfahrt in Indien schon im heimischen Zürich, nämlich beim Versuch, besagte Fahrt nicht erst vor Ort, sondern vorher online käuflich zu erwerben. Sollten Sie an der indischen Bürokratie nicht weiter interessiert sein, springen Sie bitte direkt weiter vor zum Kapitel «Synchronizität, Biryiani und Mad Max».

Nach einer kurzen Recherche auf Ecosia (der baumpflanzenden Alternative zu Google, um mal ein bisschen die Werbetrommel zu rühren), lande ich auf der Website der indischen Bahngesellschaft, welche ihre Seite mit «Next Generation eTicketing System» übertitelt. Das hätte mir eine Warnung sein sollen. Ich gehöre nämlich nicht zur nächsten Generation, sondern zu jener mit dem Buchstaben «X», wie «x Anläufe, bis das Ticket endlich gebucht ist».

Erst zahlen, damit du deine Daten abliefern darfst

Zunächst sollte ich mich registrieren. Soweit, so gut. Alles verläuft im erwarteten Rahmen, will heissen, das System beanstandet erst mal das Format meiner Telefonnummer und die Wahl des Passworts, will dann mein Alter wissen, meinen Zivilstand, sowie die Schuh- und AHV-Nummer meiner Mutter. Nachdem ich alles gewissenhaft beantwortet habe, vermeldet der Dienst, ich hätte nun doch etwas viel Zeichen eingegeben, ich solle mich bitte kürzer fassen. Ein etwas engeres Verhältnis zwischen mir und der Online-Plattform scheint sich anzubahnen. Ein bisschen wie eine Dating-Plattform, bei der ich geprüft werde, ob ich überhaupt einer näheren Betrachtung würdig bin. Und wie auf einer Dating-Plattform, soll ich für die Vermittlungsdienste bitte auch vorab erst mal die Brieftasche öffnen. Muah, ist ja auch logisch. Natürlich muss man dafür bezahlen, dass man seine Daten eintippen und die Dienstleistungen einer Firma kaufen darf. Da es sich um Rupien handelt, komme ich der Bitte trotz gewissen Zweifeln nach.

«Etwas in mir verwandelt sich in Shiva, den Zerstörer.»

Nachdem ich den Wegzoll in die indische ÖV-Welt gelöhnt habe, wird nun die Echtheit meiner Daten geprüft. Kurzum, die wird durch den Versand zweier Codes verifiziert, einen aufs Handy, einen in die Mailbox. Nach einer halben Stunde – mir ist allmählich heiss und ich verspüre eine gewisse Ungeduld – habe ich es geschafft: Ich darf mich einloggen!

Emotionale Berg- und Talfahrt

Erstaunlich schnell habe ich den Zug meiner Wahl gefunden. Eine Welle des Glücks durchfährt mich. Jetzt muss ich nur noch… die Passnummern. Meine und die meiner Begleitung. Ich krame in meinen Unterlagen… wozu in Dreiteufelsnamen braucht man denn für eine halbstündige Zugfahrt eine Passnummer? Item, ich werde fündig und beuge mich dem Unabänderlichen, tippe Pass- wie auch Kreditkartennummer ein, drücke auf «Senden» und schon… wird meine Kreditkarte nicht akzeptiert. Es ist ein bisschen wie beim berühmten «Leiterlispiel»; ich lande wieder auf Feld 1. Den Vorgang wiederhole ich fünf Mal. Es gibt nämlich rund 30 Möglichkeiten, zu zahlen. Die Option «Kreditkarte» ist in mehreren davon enthalten. Beim fünften Mal platzt mir der Kragen. Etwas in mir verwandelt sich in Shiva, den Zerstörer. Ich verspüre das Bedürfnis, meine Daten mit einer Axt in das Online-Formular zu hämmern, allein das Wissen um die Kosten eines neuen Bildschirms hält mich davon ab.

Zwei Stunden später habe ich mich beruhigt. Ich starte einen neuerlichen Versuch. Wundersamerweise wird meine Zahlung akzeptiert. Ich freue mich. Leider bekomme ich noch immer keine Tickets und irgendwie geht auch sonst nichts weiter. Ich wende mich an Disha, den Chatbot, und frage ihn, ob mit meiner Buchung alles ok sei. Das weiss er freilich so auch nicht, er meint dazu nur lapidar «please rephrase or choose any other question».

Ob online oder am Schalter: Indien ist eine Geduldsprobe

Falls Sie mir jetzt sagen wollen, «selbst schuld, am Schalter wäre alles viel einfacher gewesen», dem möchte ich den Eintrag in Wikipedia entgegenhalten: «Alternativ können, wenn man schon in Indien ist, Fahrkarten auch direkt am Bahnhofsschalter gekauft werden. Der Vorgang ist aber etwas bürokratisch. Dort muss man dem Fahrkartenverkäufer ein Antragsformular für seine Wunsch-Fahrkarte vorlegen.»

Am nächsten Tag ist mein Kampfgeist erwacht. Ich beschliesse, sämtliche Zahloptionen einzeln durchzugehen und auszuprobieren. Auch wenn ich dazu sämtliche Daten immer wieder eingeben muss. Bei einer davon… Sesam öffne dich… klappt es tatsächlich! Habemus Tickets!

Synchronizität, Biryiani und Mad Max

Als logische Konsequenz des erfolgreichen Ticketkaufs befinden wir uns also eine Woche später an der Bahnstation in Thrissur. Der Bahnhof wirkt moderner als erwartet, vom tropischen Ambiente abgesehen im Grunde ähnlich wie bei uns. Naja, fast. Jedenfalls sieht man bei uns kaum noch Leute über die Gleise zotteln, zumal man auch schnell dingfest gemacht würde. In Indien aber tummeln sich die Leute seelenruhig auf den Bahnschwellen, ja es wird noch auf den Zug aufgesprungen, nachdem dieser bereits angefahren ist.

Ansonsten gibt’s eine elektronische Anzeige wie auch eine weibliche Stimme via Lautsprecher, die über alles Wesentliche informiert. Zum Beispiel darüber, dass unser Zug 20 Minuten Verspätung hat, was ja easy ist. So haben wir noch etwas mehr Zeit, die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten. Diese wirken aus der Distanz betrachtet ein bisschen wie rollende Gefängnisse – am Tag der offenen Tür. Die Fenster nämlich sind vergittert und lassen den düster wirkenden Innenraum nur erahnen. Es scheint, als wären die Abteile durchwegs gut gefüllt. Aus den Fenstern der Sleeperklasse strecken sich uns Füsse entgegen, aus anderen mustern dunkle Augen unsere weissen Nasen.

Unser Platz befindet sich in einem sogenannten «Second Seating»-Abteil. Es gäbe auch feudalere Varianten in der «Executive class» oder im «Chair car», aber wir sind hier nicht auf der Suche nach Luxus. Die indischen Züge sind auffällig lang – was zum Problem wird, wenn man keinen Plan hat, wo der Wagen halten wird, in den man einsteigen soll. Die eine Zugformation scheint von vorne nach hinten durchgezählt zu werden, die nächste wiederum genau umgekehrt. Wir positionieren uns auf Geratewohl mal eher weit vorne, und wie unser Zug einfährt, hält unser Wagen… direkt vor uns. Einer der Zufälle, die in Indien öfter vorzukommen scheinen, wie wir im Verlauf unserer Reise erleben werden. Wir nennen es «Synchronizität».

Das – von der Indian Railways-eigenen Firma «Integral Coach Factory» hergestellte – Zugmodell ist mit je drei Sitzplätzen pro Gangseite besonders breit. Ein ganzes Ventilatorenfeld an der Decke und das schummrige Licht im Zuginnern verbreiten einen Hauch von «Mad Max»-Ambiente. Vor den Gitterfenstern und im Zuginnern bieten fliegende Händler ihre Waren feil, das Menü scheint immer das selbe zu sein: Wiederholen Sie jetzt bitte zehn Mal hintereinander ganz schnell das Wort «Biriyani». Hat es geklappt? Dann könnten auch Sie sich für den Job als Händler bewerben. Ja, bewerben, denn die Verkäufer sind allesamt Angestellte der Bahn.

Kaum im Wagen, fragen auch schon hilfsbereite einheimische Mitreisende nach unserem Reiseziel, um uns später ankündigen zu können, wenn dieses erreicht ist. Der Zug setzt sich in Bewegung und ist schliesslich mit geschätzten 50 Stundenkilometern flott unterwegs, sodass die Fahrt rund eine halbe Stunde später schon wieder vorbei ist.

Britisch-schweizerisches Bähnli

Übrigens gibt es bei indischen Zugreisen durchaus auch Luft gegen oben, so zum Beispiel wortwörtlich in der sehr feudalen Nilgiri Mountain Railway im gleichnamigen Gebirge, in der wir uns einige Zeit später ebenfalls den Fahrtwind um die Nase wehen lassen. Diese seit 1899 existierende Bergbahn (sie wurde übrigens nach den Plänen eines Schweizers gebaut) wird trotz der steilen Strecke heute noch teilweise mit einer Dampflokomotive betrieben. Das schmucke Bähnlein, das es mit seinen fluffigen Polstersitzen ins Weltkulturerbe der Unesco geschafft hat, versprüht ein sehr gediegenes, britisches Ambiente, sodass man nachgerade versucht wäre, während der Fahrt an einem Tee zu nippen. Was sicherlich kein Problem wäre, immerhin gibt es in der Umgebung genügend Teeplantagen.

Der Letzte landet in der Gepäckablage

Freilich kommen in Indien auch Freunde der währschafteren Zugerlebnisse auf ihre Kosten. In der Regel bucht man in indischen Zügen auch in den günstigeren Klassen einen Sitzplatz – so wie wir, im «Second Seating». Wem das immer noch zu nobel ist, der kaufe sich ein «General Admission»-Ticket, also eines ohne Sitzreservation. Wie mir von zwei Reisenden versichert wurde, lassen sich so problemlos Kontakte schliessen, denn diese Waggons sollen in der Regel wirklich sehr, sehr gut ausgelastet sein… Es ist ja nun nicht so, dass man in Indien keine Schlafwagen kennen würde: Hat man sich aber trotzdem in die «Holzklasse» verirrt oder das Abenteuer freiwillig gesucht, so bietet sich auf längeren Fahrten allenfalls noch der (regional durchaus kalte) Boden als Übernachtungsgelegenheit an – unter den Bänken etwa. Als Sitzgelegenheit wird aber auch die Gepäckablage gern genutzt. Im Land der Kontraste ist man da nämlich ebenso unkompliziert, wie man es bei der Ticketreservation genau nicht ist.

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