Kurze Blicke, der Wind, ein Hämmern von weither: Sinnliche Nuancen des Daseins. All dies ist – mit einer feinen Beobachtungsgabe – auch und vor allem an den Haltestellen der Zürcher Trams und Busse einzufangen. Die 18-jährige Mila Weber hat genau dies entlang der Linie 72 getan und in ihre Matura-Arbeit einfliessen lassen. Entstanden sind dabei berührende Stimmungsbilder in Text und Filzstift. (Teil 1)
Die Tram- und Buslinien in Zürich sind gewissermassen die Lebensadern der Stadt. Besonders deutlich machen das die Texte und Bilder von Mila Weber, welche ihre Matura-Arbeit vergangenes Jahr dem Geschehen an den Haltestellen entlang der Linie 72 gewidmet hat. Inhalt der Arbeit war es, die gezeichneten Haltestellen als Bühnenbilder durch Text zu beleben. «Die Wahl fiel auf die Linie 72, weil sie einen grossen Teil der Stadt abdeckt und durch ganz unterschiedliche Umgebungen führt», schreibt die junge Künstlerin. Für ihre Zeichnungen liess sie sich von den Stadtbildern des Zürcher Künstlers Ingo Giezendanner inspirieren. Das besagte Werk hat sie uns nun zur Verfügung gestellt, damit wir es Ihnen in einer zweiteiligen Folge vorstellen können. Heute lesen Sie Teil 1 der Reise vom Morgental nach Milchbuck.
Jugendherberge, 11:34
Weisse Haare, schulterlang und gesund. Ein Lächeln auf den Lippen. Strahlende, verträumte Augen, ganz im Kontrast zur dunkelgrauen Wolke, die gerade am Himmel vorbeizieht.
Eine Migrostasche auf dem Schoss. Darin der tägliche Einkauf, hauptsächlich aus Obst bestehend.
Aufkeuchen. Ein holpriger, schneller Atem. Mühsames Husten und anschliessend verlegenes Räuspern. Grosser Mann, Mitte 30, fährt sich durch das Haar und setzt sich hin. 3 Minuten zu früh, aber sicher ist sicher. Schicker, schwarzer Anzug. Weisses Hemd, Ledertasche. Gegeltes, schwarzes Haar.
Er räuspert sich erneut, diesmal bestimmter und strenger. Kontrolle wiedergewonnen. Schaut nach vorne.
Im Seitenwinkel ahnt er den Blick der Sitznachbarin. Seiner jedoch weiter starr geradeaus.
Auf einmal eine Hand. Er schaut nach unten. Mandarine, eher klein und hellorange. Blick nach rechts. Freundliches Lächeln.
Sie sagt etwas, hält ihm die Frucht noch ein wenig mehr entgegen. Blinzelnd nimmt er ihr sie aus der Hand, steckt sie in seine Tasche.
Als der Bus kommt, steht sie nicht auf. Ein letzter Blickkontakt, bevor er einsteigt und die Tür hinter ihm zugeht.
Thujastrasse, 12:57
Schallendes, ehrliches Lachen.
Warme Sonnenstrahlen in den Augen der beiden Mädchen, die gerade ein wenig wackelig die Strasse hinunterfahren. Kein Wunder, wenn sie sich ein Fahrrad teilen.
Bis hierhin haben sie es geschafft, im Sihlcity gestartet, dann über die Maneggbrücke. Mehr mag die Fahrerin nicht mehr. Aber auch das Mädchen auf dem Gepäckträger steht erleichtert auf, als sie an der Haltestelle ankommen.
Die Hitze schlägt diesen Nachmittag besonders zu und die schon ewig stehende Baustelle gleich nebenan gibt der Luft einen zusätzlich stickigen Ton.
Nasse, schwitzige Haare im Nacken. Die zwei witzeln darüber, sie sich im Coiffeursalon daneben ganz abzurasieren.
«Warum nicht?» Lachen.
Eine ehrliche Umarmung, als der Bus kommt. Gutes Timing. Die eine steigt in den Bus.
‘Wir sehen uns’, sagt die Hand, die freudig durch das Fenster winkt.
Hügelstrasse, 13:42
Quietschen.
Die Strasse ist leer von Autos. Nur ein dünnes, silbernes Fahrrad fährt gerade die Strasse hoch. Der Fahrer trampelt schnell, aber mühelos. Zu tiefer Gang. Ein Junge, breit. Das Fahrrad geht neben seiner Masse allmählich unter. Bremsen. Erneutes, diesmal lauteres Quietschen.
Er steigt ab. Schwingt dabei das rechte Bein mit einer gekonnten Bewegung nach hinten. Schon ist er auf den Füssen. Sein Fahrrad lehnt er an der kleinen Bank an, holt erst dann sein Handy aus der schwarzen Bauchtasche. Tippt kurz etwas darauf, bleibt stehen. Schaltet das Handy aus.
Ein. Aus. Ein. Aus. Pfeift leise vor sich hin. Sein Blick ist nach rechts, Wollishofen, gerichtet. Er kneift leicht die Augen zusammen, schaut in die Ferne. Tippt dann wild, nervös etwas auf seinem Handy, bleibt gleich darauf länger auf der Löschtaste sitzen. Handy aus, ein, aus, ein, aus.
Endlich sieht er ihn, den Velofahrer am anderen Ende der schmalen Strasse. Grösser und grösser. Ausser ihm niemand zu sehen. Zweiter junger Mann steigt ab. Grinsende Gesichter und ein Handschlag zur Begrüssung. Sie tauschen ein paar knappe Worte aus, steigen wieder auf ihr Fahrrad. Beide in die gleiche Richtung fahren sie die einsame Strasse entlang.
Verschwinden irgendwann nach links Richtung Landiwiese.
Waffenplatzstrasse, 14:36
Sie sitzt, Musik in den Ohren, sie sitzt da an diesem sonnigen Nachmittag. Hat frischgewaschene Haare und trägt Flipflops.
Fruchtsaft in der Hand, als Erfrischung. Im Sihlcity geholt, dann bis hierhin zu Fuss.
Sie schwingt ihr Bein, eines auf dem anderen. Auf und ab. Geniesst den sich anbahnenden Sommer, den man bereits riechen kann.
Da hält er an.
Eigentlich will er an ihr vorbei, mit dem Fahrrad. Er trägt einen Kapuzenpullover, schwarz, und diese kurzgeschnittenen Haare, rasiert, die in letzter Zeit immer trendiger werden.
Sie schauen sich unverwandt an. Will er sie nach dem Weg fragen?
Nein, er sieht aus wie jemand, der sich auskennt. Immerhin ist er gerade ohne zu zögern abgebogen.
Stattdessen sagt er: «Coole Flipflops», und fährt davon.
Waffenplatzstrasse, 15:21
Erwärmter Haarschopf, trotz der winterlichen Kälte. Dampfender Atem. Die Sonne schafft nur an wenige Flächen wirkliche Wärme.
Und trotzdem streckt sie ihr ihr rot-bleiches Gesicht entgegen, schliesst geniesserisch die Augen. Friedliches Lächeln, die Arme leicht ausgestreckt. So sieht sie in dem roten Wintermantel viel jünger aus, ihre Falten verblassen fast.
Heute ist ein schöner Tag. Das ganze Grau der letzten hat sich in Luft aufgelöst, die Sonne scheint umso prächtiger. Eltern und Kinder, alte Paare, Einzelne mit oder ohne Hund, spazieren die Strasse entlang, um dann rechts in den Park abzubiegen.
Und sie, mittendrin. Steht da und geniesst einfach.
Passanten und andere Wartende schauen ihr zu, sie beachtet sie nicht. Auch die Bauarbeiten und den Lärm, den sie mit sich bringen, scheinen sie keineswegs zu stören.
Erst, als der Bus anhält und einen Schatten auf sie wirft, öffnet sie die Augen wieder. Blinzelt, nimmt ihre Tasche wieder in die Hand, die die ganze Zeit vor ihren Füssen auf dem Boden lag.
Steigt ein, versunken in ihrer eigenen Welt. Hinterlässt einen fruchtigen Sommergeruch.
Sihlcity, 17:08
Laute, mühsame Bauarbeiten und hallender Lärm der Autobahn, die den nass-kalten, stürmischen Wind nur noch unterstreichen.
Bereits in Wintermantel, Mütze und Schal gekleidet geht sie, rennt sie fast die letzten Meter zur Tafel. Dabei gibt es dort auch nicht besonders viel Schutz, höchstens vom peitschenden Regen.
Ihre Wangen und Ohren ganz rosa von der Kälte, die erbarmungslos und eklig zuschlägt. Sie zerrt an ihrem Mantel, wickelt sich noch ein wenig mehr ein, hofft, dadurch ein wenig wärmer zu bekommen. Schaut kurz auf ihr Handy, das sie immer in der Hand hält, um nichts zu verpassen. In 4 Minuten. Die Zeiten kennt sie auswendig.
Feucht-warme Luft aus ihrem Körper. Ein hupendes Auto fährt vorbei, sie erschrickt, wartet weiter.
Weisse Kappe, mitgerissen vom Wind. Stolpert den Weg entlang, immer näher zur Strasse, die in die Enge führt. Zuerst schaut sie ihr nur nach, dem kleinen weissen Ding, das verloren davonfliegt. Dann aber setzt ihr Kopf ein. Sie eilt ihr hinterher, Adrenalin durchfährt ihren Körper. Sie darf nicht entkommen!
Da, hängengeblieben am Strassenrand, wo das Regenwasser abfliesst.
In die Hocke. Mit einer schnellen Bewegung schnappt sie zu, hält die Kappe einen Moment später in der Hand. Atmet schwer, trotz der nur wenigen Meter. Ein Auto rast vorbei, spritzt das Wasser auf dem Boden nach links und rechts. Hinterlässt dunkle kleine Tropfen auf ihrer Jeans.
Schnelle Schritte, die näher kommen. Eine Hand, die ihr aufhilft. Direkter Augenkontakt, als sie aufblickt. Die Zeit scheint kurz stillzustehen.
Er schenkt ihr ein Lächeln, lässt sie los und nimmt ihr die Kappe behutsam aus der Hand. Macht sich wieder auf den Weg.
«Danke!»
Sein Ruf wird von den vorbeifahrenden Autos verschlungen, aber sie hört ihn und lächelt zurück.
Sie scheint in Gedanken versunken zu sein, als wenig später der Bus kommt und sie mit offenem Mantel einsteigt.
Nicht einmal die Kälte beachtet sie noch.
Zwinglihaus, 22:14
Es ist kalt, die Aussendecken sind bereits hingelegt.
Und doch verbringen Einige ihren Aufenthalt im Café Plüsch an der frischen Spätabendluft. Jugendliche sitzen da und lachen, rauchen und plaudern. Aus ihren Bechern dampft es, entweder Glühwein oder Ingwertee. Den Strassenlärm nebenan beachten sie kaum. Nur in den Bus, der ab und zu vorbeifährt, schauen sie neugierig hinein.
Da, eine junge Frau, in ihrem Blick Nervosität und Hoffnung. Ihr Kopf ist stark nach hinten gedreht, es sieht aus, als würde sie sich dabei den Hals verrenken. Ihre Augen huschen hin und her, scannen das ganze Café ab. Einkaufstasche fest in der Hand. So als wäre sie bereit, jederzeit auszusteigen.
Doch ihr ganzer Körper erschlafft gleich wieder, als ihr Blick auf der Kellnerin, schwarze Haare und Tattoo, hängen bleibt. War das der Grund für ihre suchenden, wachsamen Augen?
Sie lehnt nach hinten, Kopf wieder nach vorne. Bläst sichtbar Luft aus ihren Lungen, ihre Schultern sinken dabei nach unten.
Entspannt.
Oder liegt doch Enttäuschung in ihrer Haltung?
Es bleibt niemandem mehr Zeit, dies herauszufinden, denn der Bus fährt mit einem Ruck davon in die Dunkelheit.
Zur Person
Die 18-jährige Mila Weber, wohnt in der Nähe von Morgental, dort wo die Buslinie 72 ihren Lauf nimmt. Die Maturandin an der Kantonsschule Wiedikon schreibt, zeichnet und macht Musik, ebenso gilt ihre Leidenschaft aber auch Schulfächern wie Geschichte und Politik. Nach ihrer Matur wird sie ein Zwischenjahr einlegen und nach einer Zugreise per Interrail eine Atlantiküberquerung mit dem Segelschiff antreten, bevor sie nach ihrer Rückkehr in die Schweiz den weiteren weiteren Berufsweg einschlägt.