Während im Dezember viele nur noch Weihnachten im Kopf hatten, musste der 29-jährige Oscar Weber ganz andere Vorbereitungen treffen – Vorbereitungen für ein neues Leben im Regenwald Argentiniens. Aus purem Zufall treffe ich in seiner letzten Woche auf den jungen VBZ-Mitarbeiter und erfahre von seinem Abenteuer. Die Begegnung führt zu diesem Porträt über einen liebenswerten, ruhigen und gleichzeitig unglaublich mutigen Menschen.
Eigentlich hätten Sie, liebe Leser, an dieser Stelle einen Bericht über den «Bandrutscher» vorfinden sollen. Ein Fahrzeug, welches die Tramgleise mit Schleifpapier bearbeitet, um deren Oberfläche rau zu machen. Das ist notwendig für die Haftung der Tramräder. Um ein paar Fotos zu schiessen, bitte ich, eine Runde mitfahren zu dürfen. Oscar Weber, der an diesem Tag Dienst hat, ist einverstanden und erklärt mir die Tücken der Gleisschleiferei. Ich frage ihn, wie lange er schon bei den VBZ ist. Ungefähr anderthalb Jahre, antwortet er, «aber nicht mehr lange».
Es ist seine letzte Arbeitswoche. Danach gibt Oscar seine VBZ-Kutte ab und fliegt nach Argentinien. Gelöst hat er ein One-Way-Ticket. Der 29-Jährige zieht mit seiner jungen Familie nach Südamerika, in seine Heimat. Die kleine Gemeinde Campo Ramón im Regenwald der nördlichen Provinz Misiones verliess er 2002 alleine, als Jugendlicher. Nun kehrt er zurück – im Gepäck seine Frau, zwei Töchter, einen Sohn und die Schwiegermutter.
Zwei Tage später treffe ich mich wieder mit Oscar. Ich will mehr erfahren über seine Pläne und über seine Geschichte. Oscar bereitet einen Mate zu. Ein traditionelles argentinisches Getränk, vergleichbar mit Tee. Getrunken wird aus einem ausgetrockneten, becherförmigen Flaschenkürbis (Calabaza oder Porongo) und durch die Bombilla (ein Trinkhalm aus Metall, mit einem Sieb am unteren Ende). Das Trinkgefäss füllt man bis zur Hälfte mit Yerba, dem teeartigen Kraut, und giesst dann langsam heisses Wasser hinein, immer über die Bombilla, das bringt Glück.
Aufbruch und ein gutes Omen
Glück können die Webers brauchen, denn sie haben einiges vor. Dass der Tag der Abreise, der 12. Dezember, gleichzeitig auch der Geburtstag seiner ältesten Tochter ist, sieht Oscar als gutes Omen. Die Entscheidung für den Umzug traf die Familie bereits letzten Februar. Sie fiel nicht schwer. «Mein Vater hat Probleme mit dem Herzen und ich will da sein für ihn», sagt der Argentinier. «Dort habe ich zwar nicht mehr meinen Lohn am Ende des Monats, dafür habe ich meinen Vater.»
Als Oscar im Alter von 16 Jahren nach Zürich kam, lebte er die erste Zeit bei einer Cousine am Goldbrunnenplatz im Quartier Wiedikon. Sein Grossvater war Schweizer und ist in den 40er-Jahren nach Argentinien ausgewandert. Das Land des Tangos und der Rinder war im letzten Jahrhundert das Ziel eines gewaltigen Einwandererstroms aus ganz Europa. Als Folge davon haben Argentinier heute noch Namen wie Müller, Schell oder eben Weber.
Ein wichtiges Vermächtnis des Grossvaters war der Schweizerpass, der es dem Teenager ermöglichte, in die Schweiz zu kommen und hier zu arbeiten. Während der ersten beiden Jahre besuchte Oscar eine Integrationsschule, die er aber abbrach. «Das hat mir nichts gebracht. Dort war es voll von Südamerikanern und wir haben die ganze Zeit nur Spanisch gesprochen», erklärt er. Seinen Lebensunterhalt verdiente der junge Argentinier bei einer Reinigungsfirma, als Barkeeper und im Sommer an verschiedenen Festivals, wo er am Stand eines Freundes Schmuck verkaufte. Im Jahr 2014 kam dann die Anstellung in der Abteilung Fahrwegunterhalt der VBZ.
«Die RS war meine Deutschschule»
Neben vielen Vorteilen hatte der Schweizerpass für den jungen Ankömmling auch einen eher unangenehmen Nebeneffekt – die Schweizer Wehrpflicht. Mit 18 musste Oscar einrücken. Flugabwehr Soldat in Payerne, stand auf dem Marschbefehl. Eine grosse Herausforderung für den zu jener Zeit kaum Deutsch oder Französisch sprechenden Doppelbürger, die sich aber als Glücksfall erwies. «Die RS war meine Deutschschule, ich hatte gute Kameraden mit viel Geduld, die mir immer geholfen haben», erzählt er. Mittlerweile spricht Oscar Schweizerdeutsch auf dem Pro-Level, will heissen mit Züri-Dialekt.
Die Argentinier lieben es zu teilen. Nichts zeigt das so schön wie die Matekultur.
Während des Gesprächs wandert der Mate zwischen uns beiden hin und her. Die Argentinier lieben es zu teilen. Nichts zeigt das so schön wie die Matekultur. Der «Sebador» bereitet den Mate zu und gibt ihn im Kreis herum (oft wird in Gruppen getrunken), alle trinken aus dem gleichen Porongo. Da so viel Yerba drin ist, reicht das Wasser jeweils nur für ein paar kleine Schlucke. Der Sebador, ausgerüstet mit einer Thermosflasche, füllt jeweils nach und gibt den Mate weiter. Wer ihn zu lange in der Hand hält ohne auszutrinken, wird hochgenommen und aufgefordert «el micrófono» zurückzugeben.
Ernte bei zunehmendem Mond
Im Jahr 2007, als Oscar 21 war, arbeitete er an den Wochenenden in der Bar «Casa Loca» in Kilchberg. Dort lernte er Rebecca kennen. Die beiden wurden ein Paar und am 12. Dezember des gleichen Jahres kam Eliana zur Welt. Zwei Jahre später folgte die Hochzeit. Die Familie ist in der Zwischenzeit um zwei Nasen weitergewachsen. Nase eins ist der fünfjährige Leandro, Nase zwei die zweijährige Dina. Den Umzug nach Argentinien macht auch Rebeccas Mutter mit. «Die Abuelita» war zwar erst einmal in Argentinien, habe aber schon damals verkündet: «Hier könnte ich leben!». Oscar erzählt, wie Rebeccas Mutter den jungen Eltern immer unter die Arme gegriffen hat: «Sie hat uns immer geholfen und sich sogar früher pensionieren lassen, um auf die Kinder aufpassen zu können. Dank ihr konnten meine Frau und ich arbeiten.»
Vor ein paar Jahren hat Oscar vier Kilometer ausserhalb seines Heimatdorfs zwölf Hektar Land gekauft. Dort will er mit seiner Familie nun ein Haus bauen und das umliegende Land bewirtschaften. Auf zehn der zwölf Hektaren sind bereits Mate-Sträucher gepflanzt. Ein bis zweimal jährlich können diese Pflanzen geerntet werden, allerdings nur bei zunehmendem Mond. So will es der Brauch. Der Anbau von Mate ist praktisch. Firmen, welche Yerba produzieren, kommen die geernteten Äste und Blätter jeweils selber abholen. So konnte sich Oscars Familie während der letzten Jahre etwas dazuverdienen. Hat man Zeit, sich um die Felder zu kümmern, kann man zwischen den Sträuchern auch andere Gemüsesorten anpflanzen und die Anbaufläche sozusagen doppelt nutzen.
«Tienes que tener huevos»
Die Idee der Webers ist es, eine Art Selbstversorger-Dasein zu führen. Neben Mate und Gemüse wollen sie sich auch verschiedene Tiere anschaffen. Vorgesehen sind vorerst Kühe, Schweine, Hühner, ein Pferd und der obligatorische Hund. «Ich möchte, dass meine Kinder lernen, selbstständig zu sein und für sich zu sorgen. Sie sollen auch eine andere Welt kennen lernen als den Luxus der Schweiz. Später können sie immer noch zurückgehen, wenn es ihnen nicht gefällt.»
Es ist ein grosser Schritt vom bequemen Zürcher Stadtleben in die Tropenwelt des argentinischen Dschungels.
Internet wird es keines geben, und die Schule der Kinder liegt neun Kilometer entfernt im nächsten Dorf. Es ist ein grosser Schritt vom bequemen Zürcher Stadtleben in die Tropenwelt des argentinischen Dschungels. «Tienes que tener huevos», bestätigt Oscar, in der charmant groben Sprache, für welche die Argentinier in ganz Südamerika bekannt sind: dazu braucht es Eier. Doch die ganze Familie zieht an einem Strang und freut sich auf das Abenteuer. Rebecca wollte eigentlich schon viel früher gehen, und die Kinder fühlen sich wohl in Misiones. Der fünfjährige Leandro hat bereits verkündet, er werde jeden Tag reiten gehen.
1200 Kilometer Pampa und Dschungel
Die kommenden Monate werden die Webers aber noch in einem gemieteten Bungalow verbringen müssen. Der Bau des Hauses hätte zwar eigentlich schon vor mehr als einem Monat beginnen sollen – doch da es in der Provinz seit mehreren Wochen kräftig regnet, sind die sandigen Feldwege, die zum Land der Familie führen, zu einem schlammigen, für Baufahrzeuge unüberwindbaren Hindernis geworden. Bei der Ankunft in der Hauptstadt Buenos Aires wartete ein riesiger Container auf die Webers, gefüllt mit dem gesamten Hab und Gut der Familie. Sogar der Chevrolet Captiva hatte Platz gefunden (Sein «KTM»-Motorrad hat Oscar schweren Herzens verkauft). Danach musste der Schweiz-Argentinier das ganze Inventar auf einem Lastwagen aus der Hauptstadt am Rio de la Plata bis nach Campo Ramón bringen. Was konkret hiess: 1200 Kilometer durch die Pampa und den Dschungel!
«Ich kann in der Nacht vor Aufregung kein Auge mehr zumachen.»
Trotz all der Anstrengungen für ihn und seine Familie sagte mir Oscar bei unserem Gespräch vor der Abreise, er könne es kaum noch erwarten, «Ich kann in der Nacht vor Aufregung kein Auge mehr zumachen.». Er freue sich auf das Fischen mit seinem Vater, auf seine Jugendfreunde, und vor allem auf das tropische Klima (30 bis 40 Grad, je nach Jahreszeit). An die Kälte hier in der Schweiz habe er sich nie richtig gewöhnt. «Im Winter trage ich immer Thermounterwäsche und mindestens zwei Pullover», vertraut er mir an.
Abschied
Es sei aber auch ein wehmütiger Abschied – aus Zürich, das zu seinem Zuhause geworden sei, von den VBZ, bei denen er stets gerne gearbeitet habe, vor allem aber von seiner Mutter und seinen Geschwistern, die mittlerweile auch in der Limmatstadt leben. Vermissen wird Oscar auch die hiesige Pünktlichkeit. «Egal welche Zeit du in Argentinien abmachst, die Leute kommen sowieso, wann sie wollen.» Neben der Pünktlichkeit besitzt Oscar einen weiteren Charakterzug, der eher für Schweizer als für Argentinier typisch ist – er ist Frühaufsteher. Das werde ihm auch in seiner neuen Rolle als Mate-Farmer und Selbstversorger zu Gute kommen, meint er, denn die Tiere seien ja auch keine Langschläfer, sie würden ihn sowieso aus den Federn zwingen. «Doch bevor ich auch nur einen Fuss vor die Türe setze, brauche ich meinen Mate!», fügt er schmunzelnd hinzu.