Über die Balkanroute ins Clean-Team

Abdul Aziz Omidi arbeitet seit vier Monaten im Clean-Team der VBZ und hat bewegende Ereignisse hinter sich. Dies ist die Geschichte eines Flüchtlings.

«Ich bin Abdul Aziz Omidi aus Afghanistan. Mein Zuhause ist da, wo ich mich sicher fühle.» An diesem regnerischen Montagmorgen sitzen wir uns im Sphères bei einem Kaffee gegenüber und ich lausche gebannt seiner Geschichte. Einer Geschichte, die mich berührt, erschüttert, und die ich noch lange Zeit mit mir herumtragen werde. Einer Geschichte, die stellvertretend für tausend andere Schicksale steht, und die doch ihren ganz eigenen und individuellen Charakter hat. Ich unterbreche seinen Redefluss selten, stelle wenig Fragen. Ab und zu lächelt der 35-Jährige mit den feinen Gesichtszügen und der randlosen Brille, während er erzählt; doch oft verliert sich sein Blick in der Leere, und ich kann nur erahnen, welche Situationen er in seinem Innern gerade nochmals durchlebt.

Seit dem Spätherbst 2015 ist Abdul Aziz Omidi in der Schweiz, seit Dezember letzten Jahres arbeitet er im Clean-Team der VBZ. Die Arbeit ist wichtig für ihn, er möchte sich nützlich machen. Wir begegneten uns, als ich diese Reinigungs-Equipe der VBZ für einen Hintergrundbericht begleitete. Ich gebe seine Geschichte hier so puzzleartig weiter, wie er sie mir berichtet hat; ohne Ansprüche auf «politische Korrektheit» und Vollständigkeit.

Abdul Aziz Omidi, Mitarbeiter Clean-Team. (Bild: Fabia Bernet)

Über Herkunft, Regeln und das Anderssein

Abdul Aziz Omidi wurde in Afghanistan geboren, gehört zum Volk der Hazera, dessen Leute sich ethnisch und äusserlich von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Als 1992 der innerafghanische Bürgerkrieg begann, flüchtete er mit seiner Familie nach Pakistan. Sein Vater wollte nicht mitkämpfen, keine Menschen töten, obwohl sein Cousin – der eine wichtige Rolle im Krieg spielte – ihn wiederholt dazu aufforderte. In Pakistan lebte die Familie in der Provinz Quetta, zusammen mit tausenden anderen ihres Volkes. Aufgrund ihres Flüchtlings-Status konnten sie nicht zur Schule gehen. Abdul arbeitete als Maler, sein Vater hatte einen kleinen Supermarkt. Ein paar Jahre später schwappte die Gewalt auch nach Pakistan über. Viele Hazera-Leute wurden ermordet, man warf ihnen vor, dass sie keine Muslime seinen. Auch Abdul Aziz Omidis Vater war eines dieser Opfer. Für den Rest der Familie wurde es immer gefährlicher.

Zusammen mit seiner Frau kehrte der Afghane nach 15 Jahren von Pakistan zurück in sein Heimatland. In der Hauptstadt Kabul arbeitete er als Taxifahrer, fuhr vor allem Ausländer vom Flughafen zu ihren Hotels. Er wurde Vater von Zwillings-Mädchen und einem Sohn. Sein Lebensstil entsprach jedoch nicht den vorgegebenen Regeln. Er ging nicht beten, weil er arbeiten musste. Was in der Moschee erzählt wurde, ging gegen sein Verständnis von Religion, widersprach seiner Vorstellung des «echten» Islams, der die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen sollte. Viele Menschen seien in die falsche Richtung geleitet worden, sagt er. Er wollte sein Leben selber bestimmen, konnte aber nicht. Schlussendlich blieben ihm drei Optionen: Sich anpassen und entgegen seiner Überzeugung selber töten, getötet werden – oder gehen. Er entschied sich für Letzteres.

Machtlos auf der Flucht

Von Afghanistan flog Abdul Aziz Omidi mit seiner Frau und den drei Kindern in den Iran. Danach waren sie im Auto und oft auch zu Fuss unterwegs; schlichen sich nachts durch die Berge über die Grenze in die Türkei. Weiter ging es wiederum in der Dunkelheit mit dem Boot nach Griechenland – eine Nacht, die sich in sein Gedächtnis gebrannt hat. Die Überfahrt dauerte geschätzte vier Stunden, das masslos überfüllte Boot wurde zum Spielball der riesigen Wellen. Von Hand mussten die Passagiere immerzu das Wasser hinausbefördern, alle schrien, hatten Todesangst. Am nächsten Morgen erreichten sie eine Insel, erkältet und müde mussten sie über einen Berg laufen, bis sie schliesslich eine griechische Flagge sahen und wussten, dass sie es geschafft hatten.

Nach der Überfahrt in einem grösseren Schiff und einmal in Athen angekommen, liess sich die Familie in einem Park nieder. Agenten bzw. sogenannte «Schleuser» kamen und machten ihnen Angebote. Solch zwielichtigen Gestalten, die mit dem Elend Geld verdienen, waren Abdul und seine Familie während der ganzen Flucht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, auf Diskussionen liessen sie sich nicht ein. «Wir fühlten uns wie ein Ball am Boden – wohin man uns schoss, dahin mussten wir gehen», erzählt er. Nach langem Warten nahm einer dieser sogenannten «Agenten» seine Frau und Kinder mit, für ihn hatte es keinen Platz. Er musste sich mit dem Versprechen begnügen, dass man ihn nachholen würde, er wusste nicht, wohin seine Familie geschickt wurde und hörte fast einen Monat lang nichts. Irgendwann rief seine Frau an und sagte ihm, dass sie mit den Kindern in der Schweiz sei.

Als Abdul Aziz Omidi diesen Anruf bekam, war er selbst bereits wieder unterwegs, wurde auf Irrwegen durch Europa geschleust. Nach dem Bescheid seiner Frau kannte er nun wenigstens das Ziel. Doch die Flucht nagte an seinen letzten Energiereserven. Bei einem Zwischenhalt in Serbien musste er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen fast eine Woche in einem Wald ausharren, es war kalt, er war krank, es gab nur Brot und Wasser. Schliesslich hielt es die Gruppe nicht mehr aus, sie lief auf eigene Faust los und passierte irgendwann die Grenze zu Ungarn. Mit dem Zug ging es nach Budapest.

«Wir fühlten uns wie ein Ball am Boden – wohin man uns schoss, dahin mussten wir gehen»

Dort angekommen, brachte sie die Kontaktperson unter eine Brücke, wo Abdul und seine Gruppe mit hunderten anderen Flüchtlingen wiederum Nacht für Nacht in der Kälte ausharren mussten. Es habe ihm fast das Herz zerrissen, zu sehen, wie die Leute litten, erzählt er. Aber hier seien sie trotz unterschiedlicher Herkunft und Religion eine Gruppe gewesen, deren Menschen in der Not zusammenhielten und die sich, so gut es ging, gegenseitig halfen und unterstützten. Fast noch schmerzvoller sei für ihn die Frage gewesen, wieso man in Afghanistan nicht so geeint zusammenleben konnte.

Die letzte Etappe führte Abdul Aziz Omidi dann mit dem Zug über Wien in die Schweiz, wo ihn die Polizei in ein grenznahes Camp brachte, das aber voll war. So schickte man ihn weiter nach Zürich, dann nach Kreuzlingen… und da erfuhr er endlich auch, wo seine Familie untergebracht war, nämlich in Embrach. Nach über einem Monat der Trennung konnte er seine Frau und die drei Kinder wieder in die Arme schliessen.

Bescheidene Träume

Momentan lebt Abdul Aziz Omidi mit seiner Familie in einer Wohnung in der Zürcher Unterländergemeinde Wil im Rafzerfeld und hat in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Sie sind Flüchtlinge, nach der Zeit in Pakistan in den 90er-Jahren bereits zum zweiten Mal in ihrem Leben. Etwas, das wie er betont, niemand sein möchte. Der Weg von Afghanistan in die Schweiz war lang und beschwerlich, ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Für den VBZ-Mitarbeiter war es aber dennoch der richtige Weg, wie er betont. Seine Kinder seien sicher. Und wenn sie hier in diesem Land aufwachsen könnten, meint Omidi, würden sie auch lernen, wie man mit Mitmenschen umgeht, und was Humanität bedeutet.

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