Tramlinie 1: Zwangspensionierte «First Lady»

Ist die 1 den Zürcherinnen und Zürchern einerlei, zerbrach sie am zweiten Weltkrieg, oder wurde sie ihres egozentrischen (Ver-)Haltens auf der Strasse wegen unehrenhaft entlassen? In diesem Artikel erklären wir, warum es in Zürich keine Tramlinie 1 gibt.

Zürich als heimliche (oder für manche auch unheimliche) Nummer 1 der Schweiz erntet gern mal ein Fünkchen Neid. Nicht zuletzt deshalb übt sich die Stadt in Zurückhaltung: Man muss ja den Auswärtigen seinen Status nicht ständig unter die Nase reiben, ergo wird auch auf eine Tramlinie mit besagter Zahl verzichtet. Understatement, quasi.

Eine schlüssige Antwort auf eine oft gestellte Frage also, doch leider ist sie frei erfunden. Die Wahrheit ist, dass die Tramlinie 1 von einem unvermittelt eingetretenen Zeitalter der Busse (nein, nicht im christlichen Sinne und auch nicht mit Einzahlungsschein – gemeint sind die rollenden Alternativen zum Tram) quasi überrollt wurde. Und das kam so:

Die Strecke der altvorderen Tramwagen erkannte man ursprünglich an deren Farbe. Als 1906 die ersten Nummern vergeben wurden, stellte sich eine Anwärterin ganz vorne an: Die «weisse Linie». Ihre Rolle als Zürcher «First Lady» kam nicht unverdient, bediente sie doch seit der Jahrhundertwende die populärste Strecke der Stadt – jene, auf der zuvor schon das Rössli-Tram trabte, nämlich vom Tiefenbrunnen via Hauptbahnhof und Enge in Richtung Brunau. Der weiteren Zürcher ÖV-Erschliessung geschuldet, änderte das 1er-Tram seinen Verlauf mehrfach, bis es seine Dienste im Jahr 1935 schliesslich auf dem Abschnitt Burgwies–Kreuzplatz–Kunsthaus–Hauptbahnhof–Militärstrasse–Hardplatz anbot.

Da gab es sie noch, die Linie 1: Linienplan vom Oktober 1940. (Bild: VBZ)

Nun hatten dieses und natürlich auch andere Trams die Eigenheit, sich ganz schön breit zu machen: Es hielt mitten auf der Strasse. Gegen diese Breitspurigkeit der Trams wuchs mit dem Verkehr auch der Widerstand in der Bevölkerung. Umso mehr, als anno 1939 – auf der ehemaligen Autobuslinie B vom Bezirksgebäude zum Bucheggplatz – ein neuartiges Gefährt einher rollte: Der Trolleybus. Eine Symbiose aus elektrifiziertem Tram und dem brav am Strassenrand haltenden Autobus quasi.

Planmässige Streckenblockierung auf der Linie 1

Der Trolleybus mauserte sich schnell zur ernsthaften Konkurrenz für das Tram, wenn auch zunächst noch unklar blieb, für welches. Der 2er geriet ins Visier der Trolleybus-Verfechter, weil er – bis dato einspurig – auf zwei Spuren hätte ausgebaut werden sollen. Ein teures Unterfangen. Auch die Linien 5 und 6 wurden als Trolleybus-Strecken heiss diskutiert – dort hatten die Trams mit der Steigung zu kämpfen, demgegenüber der Trolleybus den Hügel mit Schwung bezwang. Den Spitzenplatz auf der Abschussliste belegte im Jahr 1940 dann aber das Tram der Linie 1. Dies vor allem wegen eines Engpasses, der auch heute noch zu Stirnrunzeln Anlass gibt – nämlich am Zeltweg und in der Militärstrasse. «Eigentrassee» war damals ein buchstäbliches Fremdwort, und so beutelte das Schienenfahrzeug gar arg die Nerven der Automobilisten, die an jeder Haltestelle in einen kleinen Stau gerieten. Ein Bus musste her.

Treibstoffpreise bescheren dem Tram eine Gnadenfrist

Eine Verschnaufpause von der drohenden Schienensuspendierung erhielt das Tram durch eine weit schlimmere Katastrophe, die Ende 1939 über Europa hereingebrochen war. Der Krieg liess die Preise für Rohstoffe, will heissen für Treibstoff, so flott in die Höhe steigen wie einen Trolleybus auf den Hügel, hätte es denn dort einen solchen gegeben. Statt dessen ächzte die damalige, in der Not auf Holzgasbetrieb umgestellte Buslinie C zwischen Klusplatz und Witikon mühselig die Steigung hoch. Gezwungenermassen richtete sich das prioritäre Augenmerk also auf den Ersatz der Autobusse auf den Linien A und C. In der Folge wurden im Jahr 1942 die Buslinie A zwischen Albisrieder- bis Spyriplatz und schliesslich – mit Verzögerung wegen eines Engpasses an Kupfer – anno 1946 endlich auch die Buslinie C vom Klusplatz nach Witikon auf Trolleybusbetrieb umgestellt.

«Der Linie 1, es ist ein Graus, macht man heut noch den Garaus. Auf Gummi fährt man heutzutage, ob das wohl besser, ist die Frage.»

Der Plan, die Linie 1 auf Trolleybus umzustellen, blieb dabei lange ein Papiertiger. Wenn auch ein heiss diskutierter. Selbst eine Volksabstimmung im Mai 1944, bei der fast 70 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher das Tram in Pension schicken wollten, änderte daran nicht viel. Erst hätten einige Bauarbeiten am Bahnhofplatz, auf der Bahnhofbrücke und am Central über die Bühne gehen sollen. Diese wurden wegen des Krieges aber um Jahre zurückgestellt, entsprechend verlängerte sich auch die Schonfrist für die Eins. Erst im Jahr 1952 stand die pragmatische Idee im Raum, mit einer Autobuslinie zunächst einmal praktische Erfahrungen auf der Strecke zu sammeln, bevor die Trolleybus-Leitungen gezogen würden. Der Stadtrat schien der Sache nicht zu trauen: Obwohl der Niedergang des 1er-Trams vom Volk längst beschlossene Sache war, brachte er im 1953 die Beschaffung von zehn neuen Tramzügen zur Abstimmung. Er kassierte einen Denkzettel: Die Vorlage wurde abgelehnt. Längst war die Geduld der Bürgerinnen und Bürger mit der rollenden Strassenblockade zu Ende, sie wollten Busse – sofort. Das Ende der Tramlinie 1 war besiegelt. Allerdings standen nicht genügend Autobusse zur Verfügung, und so verstrich noch einige Zeit, bis im März 1954 schliesslich die ersten Autobusse vom Burgwies zum Hardplatz rollten.

Im Jahre 1952 konnten die Bauarbeiten auf der Bahnhofbrücke endlich vorgenommen werden. Damit wurde auch der Ersatz der Tramlinie 1 durch Busse vorangetrieben. (Bild: VBZ)

Einzug der Trolleybusse

«Der Linie 1, es ist ein Graus,/ macht man heut noch den Garaus./ Auf Gummi fährt man heutzutage,/ ob das wohl besser, ist die Frage.»: Das Hadern der 1ers mit seinem Schicksal war an seiner Abdankungsfahrt am 14. März 1954 schriftlich auf einem Schild am Tram nachzulesen. Die sterblichen Überreste der Linie hielten die Erinnerung noch lange wach: Die letzten Gleise wurden im Jahre 2010 aus der Militärstrasse entfernt. Obschon auch später noch einige Stimmen die Rückkehr des Trams forderten, war ein Zurück ausgeschlossen. Ab 1. Januar 1956 eroberten die Trolleybusse unter der Buslinien-Nummer 31 die Strecke vom Burgwies bis Herdernstrasse. Sie dehnten ihr Gebiet Anfang 1957 bis zum Farbhof aus und im April 1958 bis nach Schlieren.

Im weiteren Verlauf der Geschichte zeigte die Stadt Zürich Mut zur Lücke: Neue Tramlinien erhielten die Zahlen 12 und 17, während die 1 bis dato unersetzt blieb. Vielleicht auch aus Respekt vor ihrer historischen Bedeutung. Die Geschichte vom Untergang der Linie 1 erzählt von Zeiten des Umbruchs: Solche sind – wenn auch zum Glück unter anderen Vorzeichen – in Zukunft ebenfalls nicht ganz auszuschliessen. Wie die Sterne für eine allfällige Tramlinie 1 im Jahre 2030 stehen – und erst ab dann wäre ihre Auferstehung überhaupt denkbar –, nun, das gilt es abzuwarten. Wer weiss, vielleicht läutet die Nummer 1 dermaleinst, in Zeiten des technologischen Wandels, wiederum eine neue Ära ein.

*nach einem historischen Bericht von Bruno Gisler.
Dieser Artikel wurde erstmals am 7. März 2018 veröffentlicht. 

 

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