Eine eigenwillige Nummer

Willi Wottreng erhielt für seinen Artikel zur Buslinie 31, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26.3.1993, anno 1994 den Zürcher Journalistenpreis. Anlässlich der Kürzung der Buslinie vorerst bis nach Altstetten, ist es Zeit, diese Hommage an den 31er nochmals aus dem Archiv zu kramen.

©Willi Wottreng, Neue Zürcher Zeitung; 26.03.1993; Seite a14

Was zur Welt der Grossstädte gehören will, hält unter seinen Strassenbahnen oder Bussen eine Primadonna, ein oft besonders abgetakeltes, kreischendes oder sinnenbetörendes Verkehrsmittel, das in jedem Reiseführer als Geheimtipp für Stadtbesichtigungen angepriesen wird. In Rom ist es der von Taschendieben bevölkerte 64er-Bus zwischen Termini und Petersdom, in Lissabon die durch romantische Stadtquartiere zuckelnde «Elektrische» mit der Nummer 28, in Berlin der 129er-Bus durch Kreuzberg, in Wien der Doppelstöcker Nr. 13A. Auch Zürich hat seine heimliche Stadtschönheit. Es ist nicht das goldene «Sächsi- Tram», nicht das Rigibähnchen, auch nicht der nach Kebab duftende 32er- Bus in der Langstrasse. Es ist die Linie 31, welche die Stadt von West nach Ost zwischen Hegibachplatz und Schlieren durchmisst.

Auf den Spuren eines Trams

So wie ein Schnitt durch eine Torte ihre überraschenden Füllungen offenlegen kann, erlaubt eine Fahrt mit dem 31er-Bus einen Blick in Zürichs Stadtschichten. Wobei es einen dramaturgischen Unterschied ausmacht, ob man von den vornehmen Höhen um die Helios- oder Wotanstrasse in die Niederungen Richtung Feld- und Brauerstrasse hinunterfährt oder ob man die Reise im industriegeprägten Schlieren beginnt und sich Station um Station zur Banken-City hin bewegt. Es ist auch kein Zufall, wenn viele Reisende von beiden Seiten her im Bereich des Hauptbahnhofs aussteigen, dem Scharnier zwischen zwei Streckenarmen: Viele wagen sich kaum je in ihrem Leben über diesen für Ost und West zum Grenzbahnhof gewordenen HB hinaus. Der 31er-Bus erlaubt eine ungewöhnliche Sightseeing-Tour durch Zürich, attraktiv besonders für jene, welche die Postkartensujets der Stadt schon abgehakt haben. Welch ein Gegensatz etwa zwischen dem Zürich der traditionellen Kulturinstitute rund um den Heimplatz und dem Zürich der modernen Industrie- und Agglomerationsarchitektur zwischen Farbhof und Schlieren!

Der 31er-Bus ist die heimliche Nummer 1 unter den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt; Verkehrsverein und Tourismuswerbung haben es nur noch nicht gemerkt. Dabei trug die Linie tatsächlich einst die Nummer 1, wie Peter Stirnemann, Leiter der Abteilung Netzentwicklung bei den VBZ, berichtet. Rund 20 Jahre lang, von 1935 bis 1954, fuhr auf dem Trassee des heutigen Busses die Tramlinie 1, sie verkehrte zwischen Burgwies und Hardplatz. Und von Farbhof bis Schlieren fuhr die Tramlinie 2. Im Zuge des Aufbruchs zu einer autogerechten Stadt, von der man sich einen flüssigeren Verkehr erhoffte, wurden die Tramgleise herausgerissen oder, wie etwa im Zeltweg, einfach zugepflastert. Busse und später Trolleybusse ersetzten das Tram. Doch die Erfahrungen erfüllten die Hoffnungen der Verkehrsbefreier nicht, und die Eins, diese traurige Lücke im Nummernsystem der Zürcher Strassenbahnen, blieb denn auch die einzige, die aufgehoben wurde.

Im Orient von Zürich

Das attraktivste Streckenstück auf der Linie 31 ist die Traverse durch den Stadtkreis 4, der in seiner ganzen Länge durchfahren wird. Das ist der Orient im zwinglianisch geprägten Zürich. Er kündigt sich vom Hauptbahnhof her bei der Kasernenstrasse durch die mit einem Strassenspiegel bewehrte scharfe Einbiegung an, die nicht erlaubt, dass irgendein Vehikel aus der Gegenrichtung sich neben dem Bus vorbeidrückt. Da warten an der Haltestation schon die Asylbewerber aus der zur Auffangstation gewordenen alten Kaserne, während bei der Kanonengasse Gewerbeschülerinnen und -schüler mit Walkman und Schultasche einsteigen sowie Studenten mit Plastiksäcken voll von Büchern aus der provisorischen Freihandbibliothek der Zentralbibliothek. Vorbei geht es an Polizeiposten und Betreibungsamt, Stützen des Quartierlebens, zum Zentrum dieses Quartiers, bezeichnenderweise nichts anderes als der belebte Schnittpunkt zweier Strassen: die Kreuzung Militär-/ Langstrasse. Viel buntes Volk belebt die Haltestelle, denn das Langstrassequartier hat den höchsten Ausländeranteil der Stadt; er beträgt gegen 50 Prozent.

An der Militär-/ Langstrasse begegnet der 31 er seiner Schwesterlinie, der Nr. 32. Der Historiker bemerkt beim Weiterfahren die baugeschichtlich interessanten Mietskasernen der Jahrhundertwende, in deren Innerem schmale Schächte wenigstens etwas Luft zu den Bewohnern hinabführen halfen. Nach einer weiteren scharfen Kurve – zwischen Schrotthändler und Brockenhaus – strebt der Bus dem Indianermuseum entgegen und biegt in die Hohlstrasse ein, die der gelegentlich schon etwas gestresste Chauffeur hin und wieder als «Alkoholstrasse» ankündigen mag. Die Wohnhochhaustürme der Hardau, die hinter dem Güterbahnhof im Blickfeld auftauchen, signalisieren, dass der Kreis 4 zumindest in seinen hinteren Teilen auch ein Wohnviertel ist, in dem sich neben den hier alt Gewordenen viele Familien mit Kindern durchaus wohl fühlen.

Problembus mit Spitzenleistungen

Die Nummer 31 ist die Buslinie mit der grössten Benutzerfrequenz, wie Peter Stirnemann von den VBZ erklärt. An einem gewöhnlichen Werk- tag steigen rund 33 000 Passagiere ein, mehr als etwa auf der Tramlinie 8, die eine ähnliche Strecke fährt. Und wie ein echtes Tram verkehrt dieser Bus in Spitzenzeiten im 6-Minuten-Takt.

Habitués wissen, dass zu solchen Stunden ein Sitzplatz fast nur für die zu finden ist, die schon von Anfang an dabei sind, oder, wie es in der trockenen Sprache des Verkehrsingenieurs heisst: «Die Sitzplatzbelegung beträgt zu den Stosszeiten nach 16 Uhr im Bereich Kanonengasse Richtung Löwenplatz rund 130 Prozent, in der Gegenrichtung rund 160 Prozent.» Das heisst nicht unbedingt, dass jeder zweite auf dem Schoss von Mitreisenden Platz nimmt, sondern dass auch die Stehplätze praktisch besetzt sind. «Am Fahrziel hat man eingeschlafene Arme – denn ein Bus kann eigentlich nie ganz voll sein», so formuliert es illusionslos Mona Uhl, seit 14 Jahren Stammkundin auf dem 31er-Bus.

Katasterplan der Düfte

Mona Uhl ist überzeugt, dass sich eine Art Katasterplan der Düfte erstellen und mit geschlossenen Augen feststellen lasse, an welchem Ort sich der Bus gerade befindet. Während frühmorgens um sechs Uhr der Geruch ungelüfteter Kleider den Einzug der ersten Arbeiter aus Schlieren ankündet, melden um halb sieben die Schwaden von Luxusseife, Niveacreme und Aftershave den Aufbruch der Bürolisten am Hegibachplatz. Und Kaffeeduft oder die Süsse gebackener Waffeln signalisiert die Ankunft der Verkäuferinnen am Hauptbahnhof. Abends dasselbe in umgekehrter Fahrtrichtung. «Der 31er ist die einzige Buslinie, auf der ich immer mein Parfumfläschchen bei mir habe», gesteht Jolanda Luginbühl, VBZ-Buschauffeuse. Die «Europalinie», wie der 31er im Slang des VBZ- Personals genannt wird, gehört nicht zu ihren Favoritinnen.

Herausfordernd ist die Strecke, auch wenn jene wandernden Baustellen derzeit gerade verschwunden sind, die hin und wieder verlangten, dass die Chauffeuse ausstieg und ein paar Latten versetzte. Da sind aber die Kurven, die langsam durchfahren werden müssen, weil sonst Reisende hin- oder Stromabnehmer herausfallen; da sind die Kolonnen in der Feldstrasse oder im Zeltweg, in denen oft der nachfolgende Bus schon im Rückspiegel zu erkennen ist, während der vorher- gehende noch nicht aus dem Panoramablick entschwunden ist. Da ist das Central, wo der Bus bergwärts zwei freie Fahrspuren braucht, um die Traminsel umkurven zu können, und da sind die blechschadengefährlichen Spurwechsel vor und nach der neuen Haltestelle auf dem Bahnhofplatz in Richtung Sihl.

«Die Nummer 31 ist ziemlich verspätungsanfällig», bestätigt Verkehrsingenieur Stirnemann, dessen Statistiken ausweisen, dass 90 Prozent der Busse am Hegibachplatz pünktlich – das heisst mit höchstens anderthalb Minuten Rückstand – abfahren, aber nur noch 40 Prozent mit dem gleichen Pünktlichkeitsgrad am 11 Kilometer entfernten Wendepunkt Schlieren ankommen. In der Gegenrichtung sieht es etwas besser aus, was beweist, dass der Charakter einer Buslinie selbst nach Fahrtrichtung verschieden sein kann. Die Kundin Mona Uhl wundert sich zwar, dass Busse überhaupt ohne Verspätung durchkommen. Aber ankommen tun sie alle.

Eine Linie mit Zukunft

Man mag ihn lieben, man mag in hassen; der 31er hat Charakter, zumindest ist er von höherer Erlebnisqualität als andere Busse. Da wird ein Ausländer, der mit einem Federbett aus dem Brockenhaus einsteigt, stillschweigend geduldet, aber eine biedere Grossmutter, die am Fenster strickt, von der Chauffeurin zurechtgewiesen, weil bei brüskem Bremsen Federbetten für die Mitreisenden ungefährlicher sind als spitze Stricknadeln, wie Chauffeuse Jolanda Luginbühl erläutert. Und der als Kontrolleur tätige Rico Frei scheint seine Kundinnen und Kunden durchaus zu mögen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, wenn sie sich als so friedfertig erweisen wie die Tamilen, die ohne weiteres ihren Ausweis präsentieren und allenfalls in bar bezahlen, oder als so problemlos wie die Drogenabhängigen, die sich ebenfalls ohne Widerstand kontrollieren lassen, haben sie doch ohnehin kein Geld. Die professionellen Schwarzfahrer, die erwischt er indes kaum, die sind meist gerade ausgestiegen, wenn er einsteigt. Es gehe ihm nicht einfach darum, Schwarzfahrer zu jagen, sondern die Interessen der korrekt zahlenden Kundschaft zu schützen.

Geniessen wir noch einmal diesen Bus, wenn er um Mitternacht am Central anlegt, wenn die Go-go-Girls sich zum letzten Tanz in Richtung Langstrasse verschieben, wenn ein Afrikaner mit einem riesigen Fernsehapparat in beiden Armen angerannt kommt und wenn müde und manchmal leicht verdrückt wirkende Schweizer schon die Zeitung von morgen mit den Schreckensmeldungen von heute studieren. Geniessen wir Zürichs vielfältigsten Bus, dem zweifellos eine grosse Zukunft bevorsteht: Denn früher oder später, so wissen es VBZ-Insider, wird er wieder zur Tramlinie werden – das Verkehrsaufkommen wird zu dieser Umstellung zwingen – und beitragen zur Tramrenaissance in Zürich. Und dann wird die Linie wohl wieder wie ein Diadem die Nummer 1 an der Stirne tragen.

Willi Wottreng (Text). Urs Walder (Bilder)

Auszug aus der NZZ vom 26.3.1993. (Bild: NZZ)

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Original-Auszug aus der NZZ vom Freitag, 26. März 1993

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