Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Tramlinie 4.
Die Tramlinie 4 anhand einer Auflistung ihrer Haltestellen vorzustellen, wäre im Grunde so sinnvoll wie die Erklärung, es handle sich bei van Goghs Sonnenblumen um Korbblütler auf Leinwand. Jede und jeder kennt die kulturell vielseitige Linie, verbindet sie doch vom Tiefenbrunnen bis zum Vulkanplatz ein Museum mit dem nächsten, bringt Opernfreunde zur Zauberflöte, Kunstinteressierte zu Giacometti und Literaturfreunde zu Ulysses. Auch der Zürcher Stadtrat hat das Naturell des Vierer-Trams erkannt und dieses kurzerhand zur «Museumslinie 4» ernannt.
Aber wie kommt es, dass eine Tramlinie gewissermassen als Bohemienne auftritt, sich konsequent der Kultur, dem Hinter- und Tiefgründigen zugewandt hat? Manche Veranlagungen werden dem Menschen in die Wiege gelegt und wer weiss, vielleicht gilt dies auch für ein Tram?
Wenn wir uns die Stirn der Fahrzeuge betrachten, so wird diese von einer violetten Linienfarbe mit einer weissen Vier geziert. Die Farbe Violett vereint Gegensätzliches in sich, nämlich das satte Blau eines tiefen Brunnens mit dem feurigen Rot eines Vulkans. Wenn Sie sich jetzt fragen, was wohl zuerst war, die Linienfarbe oder die Strecke von Tiefenbrunnen bis Vulkanplatz, so müssen wir Ihnen antworten, dass das eine mit dem andern nichts zu tun hat, sondern vielmehr dem Zufall – oder dem Schicksal? – geschuldet ist. Denn ganz zu Beginn, also im Jahr 1903, fuhr der «Vierer», welcher während der ersten drei Jahre tatsächlich noch «violette Linie» hiess, nur vom Hauptbahnhof bis Escher-Wyss-Platz. Apropos Stirn: Gemäss Chakrenlehre, glauben Sie’s oder nicht, sitzt dort das dritte Auge, und seine Farbe ist violett…
Falls Ihnen das des Hokuspokus` etwas zuviel ist, kommen wir jetzt auf eine sehr nüchterne Angelegenheit zu sprechen: die Zahl. Vier Stadtkreise durchquert das «Vieri», nämlich die Kreise acht, eins, fünf und neun. Wie schon erwähnt, hat das Tram seine ersten Schritte oder vielmehr Fahrten zwischen Hauptbahnhof und Escher-Wyss-Platz unternommen. Der Zürcher Hauptbahnhof und die Kunst sind ja per se nicht zu trennen, wennschon das Werk «L’ange protecteur» von Niki de St. Phalle natürlich lange nach dem Start der Linie 4 Einzug in den Hauptbahnhof hielt, nämlich 1997; dasselbe gilt ebenso für das «philosophische Ei» von Künstler Mario Merz (1992) und erst recht für die Goldkugel «La Boule d’or centenaire» (2008) von Dieter Meier, beides Werke, die in der Bahnhofshalle zu finden sind. Auch der Escher-Wyss-Platz bietet mit den «Towers» des Künstler-Duos «Los Carpinteros» ein kreatives Vermächtnis. Die Skulpturen wurden im Sommer 2012 für das Kunstfestival «Art and the City» installiert. Es mag also dem inspirierenden Charakter der beiden ursprünglichen Endhaltestellen geschuldet sein, dass die Linie 4 entlang ihres Verlaufs, vorbei an alteingesessenen Traditionshäusern bis ins trendy «Zürich West», kulturelle Institutionen anzieht wie der Magnet das Eisen und das Eisen den Tinguely.
Möglicherweise ist es aber die spezifische Eigenheit der genannten Endhaltestellen Hauptbahnhof und Escher-Wyss-Platz (nämlich jene, ein Ausgangspunkt zu sein, der in alle erdenklichen Richtungen führt), welche auf unerklärliche Weise Einfluss auf die Vielseitigkeit der Linie 4 nahm. Schliesslich und endlich steht die Vier auch für vier Himmelsrichtungen, vier Jahreszeiten, vier Elemente und so weiter und so fort. Ab 1. Mai 1909 zog sie quer durch die Innenstadt und das Seefeld bis zum Bahnhof Tiefenbrunnen. Auch in die andere Richtung hat sich das Tram fast sternförmig ausgebreitet: So zweigte es von 1908 bis 1933 nach Wipkingen ab, danach endete es jahrelang beim Hardturm und im Werdhölzli, bis es im 2011 mit viel Brimborium die Metamorphose zum «Tram Zürich West» vollzog. Seither fährt der «Vierer» an der Hochschule der Künste vorbei nach Altstetten, dem neuesten Zürcher Stadtzentrum.
Als Hommage an die «Museumslinie 4» zeigen wir, dass die Linie 4 und die Zürcher Kulturhäuser mehr verbindet als die Summe ihrer Haltestellen.
https://vbzonline.ch/das-vierer-tram-eine-zuercher-muse/
Medienmitteilung des Zürcher Präsidialdepartements vom 13. Juli 2022:
Museumslinie 4 soll Zürcher Museen stärker sichtbar machen