In der Philosophie und in der Naturwissenschaft wird das «gerechte Teilen» seit Langem debattiert oder experimentell erforscht. Doch das grosse Thema ist auch im Alltag omnipräsent – und zwar bereits bei den Kleinsten. Der Bericht einer Spielgruppen-Leiterin, angereichert durch einen kleinen Exkurs in die Theorie.
Schauplatz: Eine Spielgruppe im aargauischen Niederrohrdorf.
Zeitpunkt: Znünipause.
«Tatwaffen»: Apfelschnitze versus Salametti.
Emily will gerade genüsslich in ihr Obst beissen, als ihr Blick auf die Wurstware von Max fällt. Die Eifersucht ist programmiert und es dauert einen Sekundenbruchteil, bis der ohrenbetäubende «Ich will das auch»-Schrei den Raum erfüllt. Als Spielgruppenleiterin fungiere ich selbstverständlich als Vorbild (auch wenn ich Emilys Frust nur zu gut nachvollziehen kann). Und so triumphiere ich mit dem pädagogisch (vermeintlich) wertvollen Satz, dass das vor Futterneid auf Salametti beinahe platzende Kind (also Emily) sein Gspändli (also Max) doch fragen soll, ob es die Würstchen mit ihr teilen würde. Kaum ist der Satz ausgesprochen, begräbt Max seinen Znüni schützend unter seinen Armen – schliesslich gehört das heissbegehrte Essen ihm und nur ihm allein.
Voilà, da haben wir den Schlamassel. Denn jetzt ist nicht mehr nur Emily in Tränen, auch die Aufmerksamkeit der anderen Kinder ist geweckt. Innerlich etwas genervt, frage ich mich, was die Eltern daran nicht verstanden haben, dass wir uns als zahnfreundliche Spielgruppe postulieren, und somit Fettiges sowieso nichts an diesem Tisch verloren hat. Nach weiteren bitteren Tränen von Emily, bockigen Bemerkungen von Klein-Max und der gebetsmühlenartig repetierten Belehrung meinerseits, wie grossartig doch Teilen sei, zeigt sich Salametti-Besitzer Max tatsächlich einsichtig – und reicht den anderen Kindern auch ein Stück seines Kuchens (also natürlich: seiner Wurst). Für einen kurzen Augenblick herrscht dann wahrhaftig ein «Friede, Freude, Eierkuchen» – bis Kevin seinen Orangensaft auspackt, derweil Ainoha von den Eltern «nur» Wasser in die Spielgruppe mitgegegben wurde. Und das ganze «Teilen ist richtig und wichtig»-Spiel beginnt von Neuem.
Der Urtrieb des Überlebens
Sind Emily und Max, Kevin und Ainoha egoistische und in ungesundem Mass neidische Kinder? Nein. Laut psychologischer Forschung ist ihr Verhalten ganz normal. Dinge in den Besitz zu nehmen und gegen andere zu verteidigen, ist ein angeborenes Verhalten, das schon in der Steinzeit das Überleben der Menschheit gesichert hat. Gegen diesen Instinkt zu handeln und anderen freiwillig vom eigenen «Besitz» abzugeben, ist dagegen ein soziales Verhalten, das erst «mühsam» (also als mitunter schmerzhafte, widerwillige Erfahrung) erlernt werden muss. Ausserdem identifizieren sich Kinder zwischen einem und drei Jahren stark über Dinge, an denen sie hängen, etwa über ihr Kuscheltier oder ihr Spielzeug. Nimmt ihm jemand den Teddy weg, fühlt sich das Kind bedroht. Der Kampf um Gegenstände wird zu einem Symbol für zentrale Fragen: «Kann ich meine Bedürfnisse durchsetzen?» Oder: «Wie weit kann ich gehen?». Um freiwillig einem Gspändli etwas von seinem Besitz abzugeben, muss sich das Kind vorstellen können, wie sich sein Gegenüber fühlt. Das zum (gerechten) Teilen nötige Einfühlungsvermögen entwickelt sich gemäss der psychosozialen Forschung frühestens ab dem dritten Lebensjahr. Freigiebig zu teilen ist jedoch nicht nur eine Frage des sozialen Trainings, sondern auch eine Frage der Persönlichkeit – die einen Menschen sind von ihrem Naturell her einfach grosszügiger, während andere mit dem Teilen oder Verleihen ihres Hab und Guts kleinlicher umgehen.
Dinge in den Besitz zu nehmen und gegen andere zu verteidigen, ist ein angeborenes Verhalten, das schon in der Steinzeit das Überleben der Menschheit gesichert hat.
Gerechtes Teilen als Lernprozess
Spannend ist auch die Feststellung, dass ein Objekt immer erst dann höchst interessant wird, wenn ein anderes Kind beschliesst, damit zu spielen. Und sei es nur eine Murmel. In der Theorie der Psychoanalyse ist ersichtlich, dass der Neid als sogenannt «destruktiver Triebimpuls» bereits beim Säugling in Erscheinung tritt; er ist also quasi «angeboren». Anders gesagt: Das gerechte Teilen will (und muss) gelernt sein. Allerdings wird uns Menschen gemäss der Wissenschaft auch der altruistische, selbstlose Wesenszug in die Wiege gelegt. Was essenziell ist, denn: Um gerechte Entscheidungen treffen zu können, bedarf es der Entwicklung des kindlichen Gehirns und der Aktivierung des sozialen Verhaltens im Laufe der Kindheit. Junge Kinder sehen auch ein, wenn etwas ungerecht ist, aber es fällt ihnen schwer, etwas dagegen zu tun. Zu wissen, was richtig ist, und das Richtige zu tun, sind eben zwei unterschiedliche Paar Schuhe – und wie komplex das Thema letztlich ist, erkennt man daran, dass selbst Erwachsene immer wieder daran scheitern.
Kein «Drama» beim Kinderbesuch
Ist mir als Spielgruppen-Leiterin an dieser Stelle ein didaktischer Tipp an die Eltern gestattet, lautet er so: Definieren Sie mit Ihrem Sprössling vor dem Besuch eines anderen Kindes das aktuelle Lieblingsspielzeug (Achtung: dieses kann sich von Tag zu Tag ändern). Verstecken Sie nun das besagte Objekt an einem sicheren Ort, um die Gefahr zu umgehen, dass genau dieses Spielzeug der Begierde in die Hände des zu Besuch kommenden Gspändlis fällt. Als Kompromiss gilt die Regel, dass dafür alle anderen herumliegenden Spielsachen geteilt werden müssen. Sie werden sehen, dass Sie sich mit dieser Methode eine grosse Portion «Drama» ersparen können.
Auch wenn das Einüben nicht immer ganz einfach ist, ist definitiv festzustellen: Ist das gerechte Teilen einmal erlernt, ist der Effekt für Kinder genauso wie für deren Eltern umso befriedigender und schöner.
Wollen Sie mehr erfahren über das Teilen? Hier gehts zum Dossier unseres Fokusthemas.