Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Tramlinie 10.
Bilder: Sarina Schmid, VBZ
Es mag zunächst scheinen, als sei die Linie 10 eher so etwas wie eine Lokalheldin. Doch der 10er denkt – wenn ein Tram denn denken könnte – wesentlich weiter als bis zum eigenen Gartenzaun: Er sorgt vor allem für gute Anschlüsse. Und das in alle Welt. In konkreten Zahlen und Fakten: Er bedient ganz fünf Bahnhöfe. Er lässt seine Fahrgäste auf die Seilbahn Rigiblick umsteigen. Oder auf die berühmte Polybahn, die im französischen Krimi «Espion, lève-toi» mit Lino Ventura und Michel Piccoli von 1982 einen grossen Auftritt hatte. Und natürlich, am Flughafen, in die nahe oder weite Ferne. Damit bleibt die 10 ihrer römischen Schriftweise «X» treu, die, bildlich gedacht, als Kreuzung oder Scheideweg interpretiert werden könnte.
Aber nicht nur punkto ÖV ist das Dezi-Tram (auf einer Skala von eins bis eben dahin) eine 10. Zwar hat es bis vor kurzem noch zähneknirschend (beziehungsweise räderquietschend) am Hauptbahnhof rechtsumkehrt gemacht. Doch im Zuge der ausstehenden Flexity startet es momentan bereitwillig hoch oben auf dem Albisgütli, wo alljährlich – so nicht gerade ein Virus die Feierlaune der Zürcherinnen und Zürcher trübt, das Knabenschiessen stattfindet.
Ein gutes Omen, um die Fahrgäste treffsicher ans Ziel zu bringen. Und ebenso ein Zeugnis dessen, dass der 10er nicht nur ÖV-Nutzenden wohlgesonnen ist: Auch jene potenziellen oder aktuellen Verkehrsteilnehmer, die anlässlich der Fahrprüfung beim Strassenverkehrsamt soeben ihr Scheitern vernommen (oder den Führerschein abgegeben) haben, trägt unser «Dezi» beruhigend schaukelnd wieder in die Stadt hinein. Im Falle solch einer Niederlage könnte alternativ – für jene, denen derlei Kompensationsstrategien hilfreich erscheinen – auf der Strecke kurz ein Frustkauf im Sihlcity getätigt werden.
In der Badehose zur praktischen Fahrprüfung
Sinnvoller wäre allerdings, wenige Schritte entfernt in die S4 einzusteigen und die Flucht in den Sihlwald anzutreten, um den Kopf zu lüften. Aber ein jeder nach seiner Façon. Auch das kühle Nass des Zürichsees vermag erhitzte Gemüter zu kühlen – ab Bahnhof Enge kann, nach einem kurzen Fussmarsch zur Buslinie 165, so ziemlich jede Badi entlang der Pfnüselküste angesteuert werden. Nicht vergessen: Vor dem Gang zum Strassenverkehrsamt die Badehose einpacken!
Nach einer kurzen Fahrt via Paradeplatz (Stopover für Frustkäufe mit dickem Portemonnaie oder für die weltberühmten Luxemburgerli) steuert der 10er sodann zielstrebig den Hauptbahnhof an und hält dort gar an zwei Seiten – damit auch ja niemand den Zug nach Milano, Hannover oder Paris verpasst.
Wenn das Tram dann bei seiner Weiterfahrt Teile des Züribergs erklimmt, könnten wir frech mutmassen, er tue dies, um mit der Seilbahn Rigiblick nicht nur den Weg in die Weite, sondern auch in die Höhe zu ebnen. Realistischerweise bedient das «Zehni» so aber die verschiedenen Universitäten wie auch das Unispital. Was zweifelsfrei ebenso nützlich ist, wie die zuvor erwähnten Anschlussknoten in alle Welt. Die Behauptung wäre sicher nicht zu weit gegriffen, es handle sich hier einfach um einen Eintritt in andere Welten – in die des Wissens etwa, oder in jene, in der die Halbgötter in Weiss ihr Zepter schwingen. Oder das Skalpell.
Hoch über den Wolken statt im Untergrund
Wäre beim Milchbuck seinerzeit die geplante U-Bahn gebaut worden, könnten wir heute vielleicht verkünden, das 10er-Tram biete ebenso Anschluss an die unterirdische Welt. Wie hinlänglich bekannt, hatte sich das Zürcher Stimmvolk anno 1973 aber gegen das Projekt eines Parallel-ÖVs unter dem Boden ausgesprochen, und so gehen heute halt die oberirdischen Trams kurzfristig auf Tauchstation. Nicht so die Linie 10: Sie führt nach links weg in Richtung des nächsten Bahnhofs, den in Oerlikon nämlich.
Vorbei am stetig wachsenden Glattpark entlässt der 10er an der Haltestelle «Rümling, Bäuler» seine Fahrgäste alljährlich in Richtung der wummernden Bässe des Zürich Openair, nur dieses Jahr musste das Festival wegen der Covid-19-Pandemie natürlich abgesagt werden. Auch in dieser Region, die vom Zürcher Unterland nicht mehr weit entfernt ist, darf ein Bahnhof nicht fehlen, und so wird als nächstes «Kloten, Balsberg» angesteuert, bevor der Trampilot im Cobra-Cockpit den fliegenden Kollegen hinterherwinken kann.
Da es sich hier ja um ein Linienpsychogramm handelt, wollen wir zum Schluss unsere Nase auch noch in die etwas undurchsichtigen Familienverhältnisse des «10i» stecken. Es gehört nämlich mit einem Fuss, pardon, ein paar Rädern zur Familie der «VBZ» und mit den restlichen zu den Verkehrsbetrieben Glattal, kurz VBG. Der Grund, warum das Tram nicht im gewohnten blau-weissen Look daherkommt, ist eben der, dass es ab Oerlikon zur «Glattalbahn» wird. Obschon drinnen ein VBZ-Pilot sitzt. Und das Fahrzeug auf VBZ-Gleisen dahingleitet, wenn auch nur bis Leutschenbach – dort liegen die Schienen dann wieder in der Heimat der VBG. Als wäre das alles nicht schon kurios genug, unterhält die Linie 10 ein über normale Geschwisterschaft hinausgehendes Verhältnis zu ihrer Halbschwester, der VBG-Linie 12. Unser Patchworkkind wird nämlich – wie ein Chamäleon – auf der Strecke zwischen Flughafen und Stettbach zur Linie 12, um sich auf dem Rückweg wieder zurückzuverwandeln. Allerdings nur auf jeder zweiten Fahrt. Und jetzt, wo die Linie 10 bis Albisgütli verlängert ist, gerade auch nicht. Alles klar?
Es ist vielleicht diesen unorthodoxen Sippenzugehörigkeiten geschuldet, dass man der Linie 10 glatt (und nicht nur wegen des Ausflugs ins Glatttal) ein bescheidenes, vorausschauendes und pragmatisches Wesen attestieren kann. Ja gar eines, das sich selbstlos in den Dienst des Kunden stellt, immer dessen Reiseweg im Blickfeld hat. Ein Tram, das sein Ego so weit zurückstellt, dass es vorübergehend gar die Identität wechselt, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Wir wollen nicht pathetisch werden, aber sind es nicht auch die christlichen zehn Gebote, die jüdischen zehn Tage der Umkehr oder auch die zehn Silas buddhistischer Mönche, die ein demütiges, diszipliniertes Verhalten verlangen? Und irgendwie ist die Zehn ja auch ein Dekan. Was ich damit eigentlich sagen will: «S’Zehni isch s’Zehni», nicht mehr, nicht weniger!