«Rund ein Viertel der Zeit wird für das Aus- und Einsteigen benötigt»

Wie lange es dauert, bis alle Fahrgäste ein- und wieder ausgestiegen sind, hat einen grossen Einfluss auf die Pünktlichkeit. Grund genug, diesem Thema eine Studienarbeit zu widmen. Franz Bleck, gelernter Verkehrsingenieur, erklärt, worum es darin im Detail geht.

Wenn die Verkehrsbetriebe von einem «Fahrgastfluss» sprechen, so hat das nichts mit Fahrgästen zu tun, die es im Sommer an die Limmat (den Rhein, die Aare) zieht. Vielmehr geht es darum, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, flüssig ans Ziel kommen und sich nicht etwa im Tram erst mal durch eine Masse von Personen bahnen müssen, die sich hartnäckig vor der Türe stauen. Derlei Szenarien haben nämlich einen Einfluss auf die sogenannte «Fahrgastwechselzeit» und damit auch auf die Pünktlichkeit, die wir alle anstreben und wollen. Die ÖV-Unternehmen überlassen diesbezüglich nichts dem Zufall. Wir haben mit Franz Bleck, Data Analyst bei den VBZ, gesprochen. Er hat für die Technische Universität Dresden anhand des Zürcher Tramverkehrs eine Studienarbeit mit dem Titel «Einflussfaktoren und Zusammenhänge bei Haltestellenaufenthaltszeiten» erstellt. Heute erklärt er uns, worum es dabei geht.

Sie haben sich eingehend mit den Zeiten befasst, welche benötigt werden, damit die Fahrgäste ins Tram ein- und daraus aussteigen können. Warum ist das Thema für die VBZ so wichtig, beziehungsweise was erreichen wir mit einem verbesserten Fahrgastfluss?

Grundsätzlich ist die Zeit, die wir an den Haltestellen benötigen, im Fahrplan eingeplant. Wird wegen verschiedener Faktoren mehr Zeit benötigt als geplant, geht das zu Lasten der Pünktlichkeit. Indem wir diese Faktoren genau untersuchen, können wir Massnahmen für einen stabileren Betrieb während den Tageszeiten treffen, in denen viele Menschen unterwegs sind.

Warum rechnen wir nicht einfach mehr Zeit ein?

Die tatsächlichen Haltezeiten schwanken von Fahrt zu Fahrt. Das heisst, die zusätzliche Haltezeit würde nicht immer benötigt. Deshalb müsste häufig die planmässige Abfahrtszeit abgewartet werden. Das wirkt sich auf den gesamten Fahrplan aus: Schliesslich wird rund ein Viertel der gesamten Fahrzeit von unseren Fahrgästen für das Aus- und Einsteigen benötigt. Wenn wir diese Zeit erhöhen, werden wir insgesamt langsamer. Und je langsamer wir unterwegs sind, desto unattraktiver werden wir für unsere Fahrgäste und desto teurer wird es, das selbe Angebot aufrecht zu erhalten. Dann müssen wir mehr Trams und Busse einsetzen. Statt einfach die Haltezeiten zu erhöhen, suchen die VBZ Massnahmen, die die Stabilität des Betriebes erhöhen, sprich die Pünktlichkeit verbessern.

Was war das Ziel der Auswertung der Daten von Halte- und Fahrgastwechselzeiten?

Es ging dabei vor allem darum, effektive Haltezeiten für den Fahrplan zu erhalten. In einigen Verkehrsbetrieben wird der Ansatz verfolgt, Fahr- und Haltezeiten aufgrund theoretischer Zusammenhänge zu berechnen. Dafür ist es wichtig, besagte Zusammenhänge zu kennen – auch, was den Fahrgastwechsel betrifft.

Wenn man die Länge des Fahrgastwechsels kennt, kann man ausserdem ermitteln, wann genau ein Fahrzeug an einer Ampel direkt hinter einer Haltestelle «frei» bekommen muss. Das vermeidet unnötig lange Wartezeiten.

Wird das bei den VBZ ebenfalls so gehandhabt?

Zur Fahr- und Haltezeitberechnung wird bei den VBZ ein anderer Ansatz verfolgt: Die Zeiten werden anhand der tatsächlichen Fahr- und Haltezeiten aus den Vorjahren jeweils angepasst. Dadurch entsteht allerdings das Problem, dass Beschleunigungspotenzial kaum erkannt wird. Die Chauffeure werden, wenn sie zu früh sind, einfach an der Haltestelle warten. Wenn wir wissen, wie gross der Zeitbedarf für den Fahrgastwechsel ist, können wir solche Wartezeiten identifizieren und den Fahrplan anpassen.

Welche Daten der VBZ haben Sie für Ihre Studienarbeit verwendet?

Etwa zwanzig Prozent der Flotte sind mit einem automatischen Fahrgastzählsystem ausgestattet. Ich konnte diese Daten als Einzelwerte nutzen, das heisst, für jeden Haltevorgang stand mir die Anzahl der Aus- und Einsteigenden zur Verfügung. Ausserdem gibt es im Open Data Katalog der Stadt Zürich weitere Datensätze der VBZ, die ich verwendet habe.

«Je ungleichmässiger sich die Fahrgäste auf die Türen verteilen, desto höher die Haltezeit.»

Sie schreiben über sogenannte Regelhaltezeiten. Wie werden diese ermittelt?

Das ist die Haltezeit, die rein für den Fahrgastwechsel benötigt wird. Es gibt auch Anteile der Haltezeit, die aus anderen Gründen entstehen. Zum Beispiel das Abwarten der planmässigen Abfahrtszeit oder das Warten an Ampeln. In meiner Arbeit ging es aber nur darum, die Haltezeit für den Fahrgastwechsel zu untersuchen. Aus den zur Verfügung stehenden Daten musste ich deshalb die Haltezeiten identifizieren, die nur aufgrund des Fahrgastwechsels entstanden sind.

Kommen wir konkret zu den Aussagen Ihrer Studienarbeit. Sie beschreiben darin ein sogenanntes «Regressionsmodell». Worum geht es dabei?

In diesem Berechnungsmodell sind die Eingangsgrössen die Anzahl der Aus- und Einsteigenden, die Besetzung des Fahrzeugs und der Fahrzeugtyp. Das Ergebnis ist die Haltezeit, die für den Fahrgastwechsel benötigt wird.

Und darauf kann man sich verlassen?

In der Realität schwankt diese Zeit natürlich und wird von vielen weiteren Faktoren beeinflusst, die ich in meiner Arbeit nicht speziell berücksichtigt habe. Beispiele sind das Alter der Fahrgäste oder das Wetter. Ein Durchschnittswert der Haltezeit, abhängig von den eben genannten Eingangsgrössen, lässt sich jedoch ermitteln.

Sie wollen sagen, das Auf- und Zuklappen der Schirme verzögert die Weiterfahrt ebenfalls?

Nicht nur. Jeder kann es bei Regen beobachten: Die Fahrgäste versammeln sich im Schutz des Unterstandes und konzentrieren sich deswegen auf jene Türen, die sich direkt vor der Wartehalle befinden. Und je ungleichmässiger sich die Fahrgäste auf die Türen verteilen, desto höher die Haltezeit.

Es zeigt sich in Ihrer Studienarbeit, dass der Zeitbedarf für Einsteigende generell grösser als jener für Aussteigende ist. Woran liegt das?

Es gibt tatsächlich auch viele andere Untersuchungen die das festgestellt haben. Die Gründe sind nicht ganz klar, ich kann mir aber gut vorstellen, dass Menschen, die in einen engen Raum, in das Fahrzeug gehen, langsamer sind und eher gebremst werden, als Menschen die sich in einen weiten Raum, die Haltestelle, begeben. Ausserdem werden sich Einsteigende orientieren, ob und wenn ja, wohin sie sich setzten möchten. Aussteigende tun das nicht.

Ein weiteres Ergebnis ist, dass es Zeit spart, wenn viele Leute gleichzeitig ein- und aussteigen wollen. Wie ist das erklärbar?

Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass die Menschen bei hohem Fahrgastaufkommen enger beieinanderstehen und so mehr Fahrgäste je Zeiteinheit die Tür passieren.

Im Gegensatz dazu dauert das Ein- und Aussteigen aber länger, je mehr Personen sich im Fahrzeug befinden. Wäre es da nicht sinnvoll mehr Fahrzeuge einzusetzen?

Nur unter diesem Aspekt betrachtet schon. Allerdings gibt es viele weitere Faktoren, die beachtet werden müssen, zum Beispiel die Wirtschaftlichkeit des Betriebs. Denn je mehr Fahrzeuge im Einsatz sind, umso teurer wird das Angebot. Ich habe ermittelt, dass – im Vergleich mit einem Fahrzeug, in dem alle Sitzplätze belegt sind – eine zusätzliche Belegung der Hälfte der Stehplätze den Fahrgastwechsel bereits etwa vier Sekunden je Haltestelle verlängert. Dieser Wert ist unabhängig davon wie viele Leute ein- oder aussteigen. Er mag klein erscheinen, jedoch summiert er sich im Laufe der Fahrt. Im Falle von Verspätungen verstärken sich die Effekte noch zusätzlich. Dann warten schon Fahrgäste an der Haltestelle, die eigentlich erst das folgende Fahrzeug benutzen wollten.

Sie haben auch verschiedene Fahrzeugtypen untersucht. Wie beeinflussen diese den Zeitbedarf für den Fahrgastwechsel?

Hier gibt es mehrere Aspekte. Zum einen die Anzahl der Türen. Je mehr Türen ein Fahrzeug hat, desto geringer ist die für den Fahrgastwechsel benötigte Zeit. Zum anderen wäre da die Niederflurigkeit. Das Cobra-Tram benötigt beispielsweise in der Hauptverkehrszeit auf der Linie 11 in Summe etwa 30 Sekunden weniger für den Fahrgastwechsel als ein Trammodell mit gleicher Länge, Türanzahl und hochflurigem Einstieg. Allerdings zeigen sich auch negative Effekte der Niederflurigkeit: Die Verzögerungen, die bei sehr hoher Besetzung entstehen, sind beim Niederflurtram etwa doppelt so gross wie beim Hochflurtram.

Woran liegt das?

Vermutlich hängt das damit zusammen, dass Fahrgäste unbewusst die Tür blockieren, indem sie in der Lichtschranke stehen und so das Schliessen der Türen verhindern. Beim Hochflurtram tritt dieser Effekt weniger auf, da die Lichtschranke auf Höhe der Stufen liegt, wo sich eher selten Fahrgäste aufhalten.

Die Erkenntnisse aus ihrer Studienarbeit dienen letztlich dazu, den Fahrplan und das Angebot entsprechend anzupassen.  Was können Fahrgäste dazu beitragen, den Vorgang zu beschleunigen?

Im Fahrzeug aufschliessen und keinesfalls in der Nähe der Tür stehen bleiben, es sei denn, man steigt an der nächsten Haltestelle wieder aus und ist als letzter eingestiegen. Jeder, der die nutzbare Breite der Tür schmaler macht, sorgt für Verzögerungen. Und wenn es nicht anders geht, weil es zu voll ist: Kurz mit aussteigen, damit der Weg frei ist und dann wieder einsteigen. Mein Eindruck ist allerdings, dass sich viele Fahrgäste schon so rücksichtsvoll verhalten und helfen unnötige Verzögerungen zu vermeiden.

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