Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Diesmal: Die Tramlinie 6.
Wenn Sie die Linie 6 sehen, mit ihrem warmen Orange-Braun im Schild, woran denken Sie? Sie denken an Löwen, Elefanten, Affen und was sonst noch so brüllt, trompetet oder keckert, da oben auf dem Gipfel des Zürichbergs, nicht wahr? Es steht ja auch da, gleich unter der Zahl: «Zoo». Und genauso abwechslungsreich und vielfältig wie dieser fedrig-pelzig-dick- und dünnhäutige Garten der Arten präsentiert sich auch das topographische Profil der Linie 6: sie schleicht durch das Tal und in die Höhe. Ihre Tour beginnt beim Bahnhof Enge, dort sichtet man sie aber nicht immer. Manchmal, vor allem aber abends, wenn die Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwindet, bricht sie aus der Enge aus und sucht das Weite. Dann wird ihr Radius etwas kleiner, sie ruht im Schutz der Bäume, die das Ufer der Sihl säumen, und in dieser Wendeschleife wartet sie auch, bis sie wieder in Fahrt kommt – geradewegs hinein in die Strasse des Königs der Tiere, jawohl, in die Löwenstrasse.
Von der schützenden Homebase zu den Bären, Elefanten und Pfauen
Aber nun zurück zu ihrem eigentlichen Start, dem Tessinerplatz. Es ist wohl kein Zufall, eher eine Synchronizität, dass die Hauslinie des Zoos in jener Gegend ihren Ursprung nimmt, in der «Pro Tier», die Stiftung für Tierschutz und Ethik, ihren Hauptsitz hat. Das «Sächsi» jedenfalls schlängelt sich von dieser «animalischen Homebase» aus anmutig in Richtung Tunnelstrasse, gerät auch an der Stockerstrasse nur kurz ins Stocken (nämlich beim offiziellen Halt an der Tramstation), weiter bis zum Paradeplatz, wo die alten Hasen des Bankgewerbes in prunkvollen Gebäuden verhindern, dass Herr und Frau Anleger als Pleitegeier den Sinkflug üben. Dort, wo eine Querstrasse weiter dem Bären gewidmet ist, probte im Frühling 2018 noch ein Elefant den Hand-, pardon, Rüsselstand: Die Skulptur «Grosser aufrechter Elefant» des Mallorquinischen Künstlers Miquel Barceló warb temporär für eine Kunstausstellung im Norden von Zürich.
Wer im «Sächsi» sitzenbleibt, passiert unweigerlich die Meile, in der die Einkaufsfreudigen mit dem etwas dickeren Portemonnaie pfauengleich auf und ab flanieren. Ob die Pelikanstrasse jenem taschenähnlichen Schnabel gewidmet ist, in welchem der Vogel seinen Fang zu deponieren pflegt, ist nicht überliefert.
Vor dem Tram durch und aufs Tram hinauf flattern
Und so pirscht unser Tram weiter, aufmerksam wie ein Luchs, vorbei an Heerscharen von Passanten, die hier an der Bahnhofstrasse bisweilen wie kopflos gackernde Hühner die Geleise kreuzen, bis es Aug in Aug mit den steinernen Löwen steht, die mächtig und stolz von ihrem Thron am Bahnhofsgebäude aus das Geschehen überblicken. Auch am Central ist es vor Überraschungen nicht gefeit. Hier flattert schon mal ein Schwan über den Platz und das Tramdach – so geschehen vergangenen September.
Im Schneckentempo geht’s in die Weinbergstrasse hinein, von wo sich die Gleise serpentinenartig ums Haldenegg winden. Die rostige Kuh beim Eingang zum Restaurant «8001» erinnert daran, dass die Lokalität einst noch «Crazy Cow» hiess. Immerhin erlaubt das Tier eine Vorahnung auf den folgenden Hotspot für jeden Tierkundler: Im Zoologischen Museum der Universität Zürich, das mit ein wenig Fantasie durchaus an Noahs biblische «Arche» gemahnt, tummelt sich von den Urviechern bis in die Moderne auf zwei Etagen die gesammelte Geschichte der Fauna. Ein Eldorado für jeden Ornithologen, Ychtyologen, Entomologen und… ach, Sie wissen schon.
Von den Giganten zu Winzlingen
Derweil jene Fahrgäste, die das Museum besucht haben, noch einmal das imposante Skelett des Mammuts an ihrem inneren Auge vorbeistampfen lassen, zeichnet sich bereits der Alptraum jedes ungeübten Radfahrers ab. Die Haltestelle «Platte» – nicht wegen des Reifenzustands, sondern angesichts der beginnenden Strecke, die so steil und anstrengend ist, dass sie so manch ein Gesicht krebsrot färbt. Noch kleiner als die kleinsten Krebse sind jene Lebewesen, die sich in der Gloriastrasse tummeln, die das «Sächsi»(oder: der Sechser) alsbald passiert: im Institut für Medizinische Mikrobiologie. Eine derartige Ballung von Bakterien macht uns Gänsehaut, weswegen wir nun flink wie ein Wiesel der luftigen Höhe entgegen sausen, um kräftig durchzuatmen.
Unterwegs geht’s an der Kirche Fluntern vorbei, dort wo früher der Family Club «Wilde Tiere» (woher der Name kommt, ist nicht ganz klar; es handelte sich dabei um eine Entspannungsoase für Familien mit integriertem Kinderbetreuungsprogramm) seinen Sitz hatte. Unterdessen wurde anscheinend dessen Zähmung vollzogen, das Lokal ist dauerhaft geschlossen. Auch das Pferd des heiligen St. Martin, an dessen Kirche wir zwischen Zürich- und Susenbergstrasse vorbei galoppieren (natürlich rein bildlich gesprochen), verharrt reglos in Stein.
Wir lassen Vergangenheit und steinerne Tierwelten hinter uns und sind froh, liegt vor uns – Gegen das Ende der Zürichbergstrasse hin – nicht nur der Zürcher Tierschutz, sondern auch das pralle Leben am beliebtesten Ziel unserer Linie 6: die Savanne, der Tropenwald, das Hochgebirge, kurzum: der altehrwürdige Zürcher Zoo. Und so schliesst sich der Kreis, vom Tal auf den Hügel, von einer animalischen Heimat zur andern.