«Heimatlos» heisst der Roman, der zurzeit auch in Tram und Bus gelesen wird. Es wird die fiktive Geschichte des Jakob Furrer erzählt, der vom bäuerlichen Leben im Zürcher Oberland über die Stadt Zürich bis nach Amerika gelangt und trotzdem heimatlos bleibt. Ein Einblick in die Zeit und ein Gespräch mit Autor Stephan Pörtner.
«Zürich liest ein Buch» geht diesen Mai in die dritte Runde: Stephan Pörtners Roman «Heimatlos oder Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde von Wald» wurde von der dreiköpfigen Jury ausgewählt und soll nun Menschen in Zürich ins Gespräch bringen. Der Autor ist besonders in Krimi-Kreisen kein Unbekannter, mit seinen Köbi-Krimis hat er sich einen Namen gemacht und wurde schon drei Mal für den Glauser-Preis in der Kategorie Kurzkrimi nominiert. Mit seinem Buch «Heimatlos» wagte sich der 57-Jährige in neues Gefilde – in die historische Romanschreibung – und das mit Erfolg.
Eines ist sofort klar, man möchte nicht in der Haut des Hauptprotagonisten Jakob Furrer stecken. Mit den Worten: «Der Bub schrie, als wolle er nicht hinaus in diese Welt, in dieses Leben, in diese Zeit, die schwer war, in diese Familie, die arm war», begleiten die Leser*innen «Köbi» von seinem ersten Schrei in einem bäuerlichen Dorf im Zürich Oberland bis zur Schlacht am Little Big Horn in Amerika. Pörtner versteht es, mit Jakob eine gespaltene und tragische Hauptfigur zu kreieren, die dennoch (oder genau wegen dem) ziemlich fassbar und sympathisch rüberkommt und ans Herz wächst. Die fiktive Geschichte basiert auf wahren Lebensumständen und Gegebenheiten dieser Zeit. Sowohl die Lebenslage als auch das eigene Verschulden und die Hoffnung auf ein besseres Leben ziehen Jakob immer wieder in eine neue Gegend. Er fasst Fuss, wird dann aber wieder entwurzelt. «Es ist einfacher seine Heimat zu verlieren, als eine neue zu finden», meint Pörtner.
Furrers Geschichte ist eingebettet in die Zeit des Auf- und Umbruchs und des technologischen Fortschritts, der die Moderne einläutete. Eine Zeit, die jedoch auch bittere Lebensumstände wie Armut, Ausbeutung und soziale Ungleichheit mit sich brachte oder verstärkte. Mit dem Roman gelingt es Autor Stephan Pörtner subtil, aber ungeschönt das Grundrauschen der Industrialisierung einzufangen.
Der industrielle Wandel ist auch beim historischen Stadtrundgang – Zürich um 1870 – erkennbar, der im Rahmen von «Zürich liest ein Buch» stattfand. Historikerin Karin Huser erklärt, dass die technische Infrastruktur der Stadt in den 1860er im Wandel war, so wurde unter der Leitung von Arnold Bürkli die Kanalisation und Druckwasserversorgung eingeführt. Zwei Jahrzehnte später folgte die Strassenbahn. Es ist durchaus möglich, dass Jakob beim Durchqueren der Stadt mit den ersten Pferdeomnibussen in Kontakt kam. Sie sind die Vorreiter des von der städtischen Strassenbahn ab 1882 betriebenen Rösslitrams.
Im Gespräch spricht Stephan Pörtner u. a. über die Faszination für Randfiguren, seine Zweifel an der Publikation und warum er nicht an den American Dream glaubt.
Wie kommt es dazu, dass Sie als Krimiautor einen historischen Roman schreiben?
Ich wollte nie einen historischen Roman schreiben. Es war gerade umgekehrt, die Geschichte meiner fiktiven Figur Jakob zog mich in die Vergangenheit. Erst danach kam das Interesse an dieser Zeit. Alles begann, als ich 2008 bei meiner Reise durch die USA die Gedenkstätte von Little Bighorn besuchte. Bei späteren Recherchen fand ich heraus, dass auch Schweizer in der Schlacht mitgekämpft haben und ich stellte mir die Frage: Wie könnte so ein Leben ausgesehen haben? Dies war meine Inspiration – allen voran war es aber die fiktive Figur des Jakobs, die mich nicht mehr losliess und mich in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert entführte. Erst danach wurde mir die Arbeit bewusst, die ein historischer Roman mit sich bringt (lacht). Besonders da ich mit dem Roman einige historische Themen von der Industrialisierung bis zur amerikanischen Geschichte anschneide. In meinen Krimis bin ich mich gewohnt, zeitgenössisch und von Orten zu schreiben, die ich kenne. Dies ist auch der Grund, warum ich fast 12 Jahre an der Fertigstellung von «Heimatlos» hatte. Zeitweise wollte ich dieses Nebenprojekt sogar abbrechen, jedoch hat mich die Geschichte und Jakob nicht losgelassen. Ich hatte auch Zweifel, ob dieser Roman überhaupt publiziert wird. Man kennt ja das Klischee, dass ein Krimiautor oder eine Krimiautorin ein «richtiges» Buch schreiben will und es dann bekanntlich in die Hose geht (lacht). Oder anders ausgedrückt, sich niemand dafür interessiert. Ich bin sehr dankbar, hat das Buch Beachtung bekommen.
Ein grosser Teil des Romans handelt im Kanton Zürich, zuerst im Oberland und danach in der Stadt. Warum haben Sie diese Region ausgewählt?
Die Vertiefung in die Geschichte meiner Stadt interessierte mich und das Schreiben sollte ja vor allem Spass machen. Ausserdem erschien es mir passend, den Roman in der Region Zürich anzusiedeln, da sie typisch für die Zeit steht. Dadurch ist es möglich, mit Jakob aufzubrechen und den Kontrast vom sich verändernden bäuerlichen Leben des Oberlands zur wachsenden Stadt aufzuzeigen.
Hat der Aufbruch in die Stadt für Jakob auch positive Seiten?
Definitiv, denn die Stadt schafft Chancen. Für Jakob ist es möglich, sich eine neue Existenz aufzubauen. Wäre er auf dem Land geblieben, gäbe es für einen gescheiterten Bauer nur eine Alternative, nämlich die Knechtschaft. In Jakobs aktueller Situation wirkt die Stadt befreiend, ganz im Einklang mit dem Sprichwort: «Stadtluft macht frei». Er kann bei null anfangen und wird nicht mit seiner Vergangenheit belastet. Wie Jakob in der Stadt leidet, so profitiert er auch von ihr.
Sehen Sie Parallelen zur heutigen Stadt Zürich?
Es ist stets faszinierend, zu reflektieren, welche Veränderungen eingetreten sind und was sich trotzdem noch ähnlich geblieben ist. Jakob kommt gegen 1870 in der damaligen Nachbargemeinde Aussersihl unter. Das Arbeiterquartier zog schon damals die jungen Menschen an und wurde durch den Alkohol, Prügeleien, Kriminalität und Erlebnisse geprägt. Aussersihl verkörpert heute den Stadtkreis 4. Obwohl die Lebensumstände eindeutig besser geworden sind, ist räumlich gesehen einiges in den vergangenen 160 Jahren gleich geblieben. Es ist noch immer das Quartier, dass junge Leute und Randständige anzieht, wo man verschiedene Seiten ausleben und Abenteuer erleben kann. Es stellt eine Gegenwelt zum blitzblanken Zürich dar.
Ihre Hauptfigur lebt mitten in der Zeit der Industrialisierung. Welche Aspekte und Veränderungen waren Ihnen wichtig aufzuzeigen?
Ich wollte die schnellen Umbrüche im Kanton Zürich aufzeigen, die innert 30 Jahren, stattfanden. Dieser Wandel war vor allem den technischen Innovationen geschuldet. Interessant ist dabei, dass solche technischen Fortschritte auch immer neue soziale Ordnungen und Strukturen schaffen, egal in welcher Zeit wir uns befinden. Es lag mir am Herzen zu zeigen, dass die Früchte, die wir heute ernten, nicht einfach vom Baum gefallen sind. Sondern unter prekären Umständen, wie Kinderarbeit, Ausbeutung etc., entstanden sind. Trotzdem eröffnete die Industrialisierungen schon in seinen Anfängen neue Möglichkeiten. Kleinere Aspekte wie die Veränderung der Zeitwahrnehmung fand ich faszinierend, insbesondere wie die Zeitplanung durch die durchgetaktete Fabrikarbeit immer präziser wurde. So wurde nicht mehr gearbeitet, wenn es hell wurde, nein, man sollte um eine bestimmte Uhrzeit vor der Fabrik stehen.
Warum haben Sie den erfolglosen Jakob als Hauptfigur ausgewählt?
Seit eh und je interessieren mich Randpersonen und Menschen, die neue Wege eingeschlagen haben, aber daran gescheitert sind. Gerade in der Hinsicht der Auswandernden werden nur die erfolgreichen Geschichten erzählt. Alle anderen, die sich kein besseres Leben in Übersee aufbauen konnten, wie Jakob, gehen unter. Ich halte nicht viel von dem Mythos des «American Dreams» – dass mit genug Fleiss alles zu schaffen ist. Es ist nicht so, als hätten die abertausenden Gescheiterten zu wenig Effort an den Tag gelegt. Vielmehr ist es in grossen Stücken dem Glück selbst geschuldet. Mich hat es gereizt durch Jakob in die Geschichte eines vergessenen Lebens einzutauchen.
Was meinen Sie, warum wächst einem Jakob ans Herz?
Als Autor möchte man immer einen Sympathieträger als Hauptfigur schaffen (lacht). Ich glaube, mit Jakob kann man sich identifizieren und mitfühlen. Er möchte eigentlich nur sein Leben als Bauer leben und hat gar keine hohen Ansprüche, und trotzdem hat er mit Hindernissen zu kämpfen und stolpert durchs Leben. Ihm werden Steine in den Weg gelegt, während er gleichzeitig auch selbst Fehler begeht. Er ist eine gespaltene Person und hat keine weisse Weste, aber genau das macht ihn nahbar und sympathisch.
«Heimatlos»
Der Roman «Heimatlos» von Stephan Pörtner ist im Jahr 2022 im Bilger Verlag erschienen. Er wurde von einer Jury des Buchhändler- und Verlegervereins ZBVV, Veranstalter des bekannten Festivals «Zürich liest» wie auch des neuen Formats «Zürich liest ein Buch», ausgewählt, um von den Zürcherinnen und Zürchern gelesen und diskutiert zu werden. Die Veranstaltung findet dieses Jahr zum dritten Mal statt, und geht noch bis diesen Freitag, 26. Mai 2023.
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*Die VBZ sind Kooperationspartner der beiden Veranstaltungen «Zürich liest» und «Zürich liest ein Buch».