«Ist hier noch frei?»

Der Zürcher ÖV bringt nicht nur von A nach B, er lässt auch immer neue Geschichten entstehen. Zwölf davon haben wir jetzt im Buch «Ist hier noch frei?» zusammengefasst.

Die Geschichten, die das Leben schreibt, sind selten linear. Wie in einem Kaleidoskop verändert sich die Wahrnehmung mit jeder neuen Wendung. Diese sprachlichen Bilder, bestehend aus Fakten und Fiktion, Erlebtem und Gedachtem, haben neun Studentinnen der «Höheren Schule für Sprachberufe», kurz SAL, im und am Rande des öffentlichen Verkehrs zu insgesamt zwölf Kurzgeschichten verwoben.

Quasi als experimentelles «Amuse-Bouche» auf dieses Buch haben wir jeder dieser Erzählungen eine Passage entnommen, und diese zwölf Extrakte zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt… es ist, wenn man so will, die 13. Geschichte, und es gibt sie hier exklusiv auf vbzonline zu lesen.

Der Duft von «Ist hier noch frei?»: Zwölf Geschichten verpackt in eine Einzelne.

Auf Tramreisen findet man alles, was es für Geschichten braucht. Menschen, Begegnungen, Bewegungen, Haltestellen, Kreuzungen, Konflikte und offene Enden. Aber dieser Satz klingt, wie soll ich sagen, etwas holperig oder hieroglyphisch, jedenfalls passt er nicht so richtig zu Smart-City. Immer suchst du nach Worten. Selten findest du die falschen, aber du brauchst viel Zeit, um die richtigen zu finden. Zu viele Daten, Hintergrundberichte, Informationen, Fragen, Fragen, Fragen überlagern dein Sprachzentrum. Die Kaugummis auf dem Asphalt ziehen Fäden. Wechselnde Reklamen, aus Salt wird Manor, wird H&M, müder Kinderwagen, braune Ledertaschen zum Tragen und zum Umhängen. Und ich sitze hier, als beginge ich ein Verbrechen.

Natürlich ist kaum jemand zufällig in einem Tram, man will an einen bestimmten Ort transportiert werden, keine nassen Füsse bekommen, man hat keinen Bock auf Autostau, will seine Gedanken sammeln, man möchte mental mal ein paar Minuten durchhängen oder was auch immer. Doch dann, Mitte März, als ich im überfüllten Dreizehner mitten in einer Gruppe jugendlicher Skifahrer stand und hoffte, sie würden bald aussteigen, fiel mir eine alte Frau auf, die mit geschlossenen Augen da sass und vor sich hin summte.

Sie erzählt mir, dass sie durchaus nach fünf Haltestellen gedrückt habe, ihre Sitznachbarin sie aber nicht rauslassen wollte und sie sich nicht getraut habe, nochmals darum zu bitten. Sich neben einen fremden Menschen zu setzen, fiel ihr manchmal schwer. Sie ertrug die aufdringlichen Parfüms der Damen und den Geruch der Raucher am frühen Morgen nicht. Genau so musste sich ihre Mutter beim Rauchen fühlen. Jedes Mal versprayte sie danach diesen scheusslichen Duft im Schlafzimmer. Gemäss Aufschrift würde die Zimmerluft nach frischem Wald riechen. Das Tram riecht nach Wärme, nach Füssen in Winterstiefeln und dampfenden Kleidern. Sie setzt sich auf einen Einzelplatz am Fenster. Nur noch acht Minuten, dann aussteigen.

Zwei Männer stiegen ein. Billettkontrolle. Einer von ihnen hatte einen riesigen Walrossschnauz. Er lachte die Passagiere an. Offenbar wollte er die Leute aufmuntern, indem er sie bei der Lektüre und ihren Telefonspielchen störte. Am Schwamendingerplatz stieg sie ohne Rucksack aus. Jetzt haben wir Platz im Tram, und ich strecke mich aus. Die wenigen Menschen riechen nach Müdigkeit und Schweiss und Essen und Bier und sitzen schweigend da und lassen sich durch die Dunkelheit tragen, bis die Türen an den richtigen Stellen aufgehen und ihre schweren, ihre leichten Schuhe sie hinaustragen in die Nacht. Es gibt Einzelgänger wie die Primzahlen, Gemeinschaftsstifter wie die Quadratzahlen. Im menschlichen Leben gibt es Brüche, es gibt Subtraktionen, die einem alles nehmen, Multiplikationen, die sowohl Gutes wie Schlechtes verdoppeln können, und Additionen, die alles wieder ins Lot bringen.»

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Die Textstellen finden Sie in diesen Kurzgeschichten :
«Anders als sonst», Corina Lanfranchi
«Stadtgrenze», Karin Dehmer-Joss
«Mornemorge früeh», Nora Gautschi
«Beschatten», Ruth Howald
«Spuren», Ruth Howald
«Fünf Haltestellen», Nicole Anderhalden
«Die Lunchbox», Vera Spöcker
«Die Mutprobe», Nicole Berger
«Augenstern», Noëmi Sacher
«Der Auftrag», Nicole Berger
«Unterwegs», Anna Hitz
«Die Philosophen», Vera Spöcker

Wettbewerb

Haben Sie es bemerkt? Eine kleine Ungereimtheit gibt es in unserem Textpuzzle. Welche? Unter allen richtigen Lösungen in den Kommentaren verlosen wir insgesamt fünf Exemplare von «Ist hier noch frei?». Die Lösung wird am 18. Dezember bekannt gegeben. Teilnahmeberechtigt sind in der Schweiz wohnhafte Personen, welche das Mindestalter von 18 Jahren erreicht haben.  Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Keine Barauszahlung der Preise. Mit der Teilnahme an diesem Wettbewerb ist kein Kaufzwang verbunden.

«Ist hier noch frei?»

Das in Kooperation mit Studenten der Höheren Fachschule für Sprachberufe entstandene Buch «Ist hier noch frei?» verhilft auf 144 Seiten zu einer anregenden Lektüre. Tauchen Sie jetzt ein: Das Buch ist für CHF 16.80 in den VBZ-Beratungsstellen Albisriederplatz, Bellevue, Paradeplatz und ZVV Contact HB sowie in ausgewählten Buchhandlungen erhältlich.Mehr Infos auf www.vbz.ch

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