Mit Blick auf Weihnachten möchten wir anhand einer märchenhaften Kurzgeschichte aufzeigen, dass der Päcklibus der VBZ fürwahr eine ganz wunderbare Einrichtung ist.
Co-Autor: Thomas Wyss
Bild: Rico Rosenberger
Es war einmal vor langer, langer Zeit . . . Nein, mit diesem Blödsinn können wir gleich aufhören, denn es war überhaupt nicht vor langer Zeit. Genauer gesagt war es nämlich vor ein paar Tagen. Da lag ich seelenruhig wie sonst jeden Morgen auf dem zwar etwas spröden, aber doch dufte nach Tannenholz und Lavendel riechenden Gestell von Lydias Boutique.
Klar, jetzt fragen Sie sich zu Recht, wen ich mit «Ich» überhaupt meine. Ich will es Ihnen verraten: Ich meine natürlich mich! Also mich, das kleine, weisse Spielzeug-Schaf aus Plüsch. Mein Kopf ist etwas zu gross geraten und einen Namen habe ich leider nie erhalten (allerdings sag ich mir immer: besser keinen als so einen doofen wie «Dolly», «Molly» oder «Wolly»). Meine Wolle ist inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen und deshalb eher so eierschalen- als seidenweiss. Wahrscheinlich ein Grund mehr, weshalb ich immer noch im Laden der alten Jungfer Lydia rumliege. Jedes Mal, wenn die Gute vor dem Öffnen durch ihren Laden streift, leise ein süsses Lied vor sich hin summend, schaut sie mich mit diesem ganz besonderen Blick an, der mir verrät, dass ich eigentlich schon längst nicht mehr rentabel bin, dass sie mich aber gleichwohl ins Herz geschlossen hat und deshalb insgeheim froh ist, dass sich noch keine Käuferin und kein Käufer für mich hat entscheiden können. So war dieser Blick immer auch ein wenig Trost, denn er vermittelte mir das Gefühl, gebraucht zu werden, wenigstens von der lieben alten Lydia.
Bis letzten Samstag (also ich glaub es war Samstag? Oder war es Freitag? Nein, an Freitagen trägt sie niemals das grüne Baumwollkleid, es muss also Samstag gewesen sein). Leider hatte ich das Gespräch zwischen Lydia und der Kundin mit gelben Strümpfen, etwas abgewetztem Rock und grauem Haar nicht en Detail mitbekommen, meine Ohren sind eben auch nicht mehr, was sie mal waren. Doch irgendwie hatte ich an jenem Morgen schon nach dem Aufwachen ein flaues Gefühl im Magen. Sie mögen jetzt lachen, aber ich kann Ihnen sagen: Schafe sind sehr wohl feinfühlige Tiere! Und gescheit sind wir auch! Bestimmt haben Sie nicht gewusst, dass wir uns zum Beispiel über 50 Gesichter von Artgenossinnen und Artgenossen einprägen können! Und lebendigen britischen Kolleginnen von mir ist es gar gelungen, einen drei Meter breiten Rost zu überwinden, der für Vieh eigentlich eine sichere Barriere darstellt, indem sie auf dem Rücken (!) darüber gerutscht sind. Nicht schlecht, oder?
Sie mögen jetzt lachen, aber ich kann Ihnen sagen: Schafe sind sehr wohl feinfühlige Tiere! Und gescheit sind wir auch!
Doch zurück zur eigentlichen Sache, also meinem komischen Gefühl im Magen: Es sollte mich nicht trügen! Denn an diesem Morgen kam Lydia plötzlich mit tristem Blick auf mich zu, streichelte sehr zärtlich meinen zu gross geratenen Kopf und «zack!» – schon war ich in Packpapier eingewickelt. Packpapier! Können Sie sich vorstellen, wie das schmerzte, weil es an meinem alten Fell scheuerte? Hinzu kam natürlich ein gewisser seelischer Schmerz, denn mir war sofort bewusst, dass ich nun nach all den Jahren doch noch als Geschenk entdeckt und in dieser Funktion verkauft worden war (auch wenn mir dieses Urteil eigentlich nicht zusteht, will ich es Ihnen doch nicht vorenthalten: Als käufliche Ware kommt man sich im ersten Moment schon ein wenig billig vor). Zu allem Elend hatte Lydia dann nicht mal mehr eine Geschenkmasche in der Schublade, die meinem nicht mehr ganz juvenilen «Style» entsprochen hätte.
Als ich merkte, dass die Käuferin mit mir unterwegs war, kriegte ich eine kleine Panik – wo kam ich hin? Was würde mit mir geschehen? Vielleicht stand mir gar eine Postpaketreise ins Ausland bevor! (Falls ja, hoffte ich einfach, dass es nicht Japan sein würde; ich hatte vernommen, dass die dort rohen Fisch mit Reis essen, igitt!) Blöd war, dass ich überhaupt nichts sehen konnte, ich lag ja komplett im Dunkeln. Und dann traf mich auch noch unerwartet die Kälte, meine Wolle taugt echt nicht mehr viel. Zudem wurde mir langsam übel vom stetigen Hin- und Hergeschüttle der Tasche meiner Käuferin. Kurz und nicht so gut: Ich hatte schon bessere Tage erlebt. Doch plötzlich hörte das Schwenken auf, und auch akustisch wurde es stiller. Ich spitzte die Ohren so gut es ging, und ganz dumpf vernahm ich eine freundliche Stimme, die sagte: «Herzlich willkommen im Päcklibus der VBZ». Päcklibus? Davon hatte ich doch vor langer Zeit schon mal gehört, Lydia hatte den Weg dahin einem stadtunkundigen Kunden geschildert, wenn ich mich recht entsann, stand der an der Ecke Bahnhofstrasse/Rennweg – also mitten in der City, voll am Puls der Stadt. Irgendwie fand ich das total cool!
Wobei cool bald nicht mehr zutraf, mir wurde rasch warm und wärmer, es verschlug mir beinahe den Atem. Mein dünnes Wollkleid war nun viel zu dick, offensichtlich hatte mich dieser Depp (äxgüsi) vom Päcklibus direkt neben die Heizung deponiert. Allerdings war beim Hinstellen auch das raue Packpapier verrutscht, wobei sich eine Art Guckloch gebildet hatte. So konnte ich jetzt sehen, was ich besser nicht gesehen hätte: Ich lag nicht nur in der Ecke neben der Heizung, nein, ich war umzingelt von zahllosen hochglänzenden und wunderschönen Geschenkpaketen, alle mit zuckersüssen Bändchen und glitzernden Sternen geschmückt. Kein Frage, ich hatte einfach ein schlechtes Karma, es war offenbar mein elendes Schicksal – ich war und blieb das hässliche Entlein – oder besser gesagt: Schäflein.
Und so fragte ich mich still daliegend und vor mich hinschmorend: Wer in aller Welt wollte mich je haben und lieben? Was hatte ich denn zu bieten? Vor allem im Vergleich mit diesen anderen Präsenten, die protzend um mich herumlagen, und das wohl zurecht, schliesslich verriet deren Papier, dass sie aus dem Apple-Store, aus dem Franz Carl Weber, aus dem Uhren- und Schmuckhause Bucherer oder aus der schweineteuren (äxgüsi) Gourmet Garage des Jelmoli stammten.
Kein Frage, ich hatte einfach ein schlechtes Karma, es war offenbar mein elendes Schicksal – ich war und blieb das hässliche Entlein – oder besser gesagt: Schäflein.
Nein, ich passte und gehörte einfach nicht hierher, alles schien sich gegen mich gewendet zu haben. Ach, hätte mich Lydia doch nur nie hergegeben! Die Zeit verging und all die prächtigen Geschenke wurden abgeholt, um am Heiligabend die Herzen ihrer Empfänger zu entzücken. Nur ich blieb einsam und allein in meiner Päcklibus-Ecke. Wenigstens hatte ich mich inzwischen an die Hitze gewöhnt, doch von der Warterei wurde ich müder und müder, die Augenlider wurden schwerer und schwerer (auch wenn ich das unbedingt verhindern wollte – ich hatte nämlich vor langer Zeit in Lydias Boutique mal eine Radiosendung mithören können, bei der ein Bergsteiger erzählte, wenn man in Bergnot gerate, dürfe man nur ja nicht einschlafen, sonst würde einem der Tod heimholen . . . Diese meine Situation war ja mindestens grad so unbehaglich wie eine Bergnot).
Sollte so also mein tragisches Ende aussehen? Allein und vergessen im Päcklibus der VBZ? An die folgenden Stunden kann ich mich leider nicht mehr erinnern, ich muss tatsächlich eingeschlafen sein. Doch als ich später dann doch wieder die Welt erblickte, starrte mich ein kleines Mädchen mit blonden Locken und Sommersprossen an. Sein herziges Lächeln zog sich übers ganze Gesicht, dann blickte es voller Liebe seine Mutter an und sagte: «Mamma, Mamma, schau, der Nikolaus hat mir ein Schaf gebracht. Und ich hab es ganz doll lieb! Ich nenne es ‹Dolly›! Oder eher ‹Molly›? Nein, ‹Dolly› ist gut!»
Ich dachte: «‹Dolly›? Mein Gott, bitte nicht!» Doch dann drückte es meinen unförmigen Kopf an seine vor Freude glühenden Wangen, strich mit den kleinen Fingern durch mein altes, dünnes Fell, und ich wusste: Dieser kleine Mensch würde mich genauso gern haben wie die alte Lydia. Der Päcklibus hatte mir doch ein wunderbares Schicksal beschert.