Fit, motiviert und leistungsfähig: Unternehmen tun gut daran eine gesunde Balance am Arbeitsplatz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schaffen, unabhängig einer Pandemiesituation. Curdin Sedlacek, Bewegungswissenschaftler und Experte für betriebliches Gesundheitsmanagement, weiss um die bedeutende Rolle der Führungskräfte in diesem Thema. Ein Fachinterview über Wohlbefinden, belastende Situationen und die Trennlinie zur Eigenverantwortung jedes Einzelnen.
Curdin Sedlacek, in der Schweiz sind über fünf Millionen Personen erwerbstätig. Wie geht es den Menschen am Arbeitsplatz?
Unabhängig der aktuellen Situation mit dem Coronavirus zeigt der aktuellste Job-Stress-Index eine steigende Tendenz für Belastungen am Arbeitsplatz. In der Wahrnehmung der Arbeitnehmenden hat das Tempo im Vergleich zur letzten Befragung zugenommen; wir müssen immer mehr erledigen in weniger Zeit. Zudem ist jeder dritter Erwerbstätige emotional erschöpft. Zwar sind wir Menschen naturgemäss auf Stresssituationen eingerichtet, jedoch werden die Erholungsphasen immer kürzer und die ruhigen Momente immer weniger. Auch im privaten Umfeld muss immer etwas laufen. In einer Pandemie-Situation kommen Unsicherheiten und existentielle Ängste erschwerend dazu.
Welche Faktoren sind verantwortlich für die Erschöpfung, die Sie erwähnen?
Mangelnde Wertschätzung, fehlende soziale Unterstützung und Sinnhaftigkeit spielen hier eine grosse Rolle. Hinzu kommt aber auch der zeitliche Druck und eine zunehmende Komplexität auf allen Hierarchiestufen. Ein Busfahrer zum Beispiel fuhr in der Vergangenheit einfach Bus und kassierte für eine Fahrkarte Bargeld ein. Heute muss er auch die elektronischen Kassen und Zahlungsmethoden kennen und kundenorientiert auf Fahrgäste reagieren. Dafür werden wieder neue Kompetenzen notwendig.
Der Stellenwert von Gesundheit am Arbeitsplatz steigt demzufolge weiter an. Was sollte in einem Unternehmen thematisiert werden?
Die Gesundheit an sich muss zum Thema werden; dafür sind noch nicht alle Unternehmen sensibilisiert. Das Coronavirus hat vor allem eine körperliche Komponente, indem uns Viren befallen und unsere Organe angreifen. Doch auch die psychische Gesundheit soll vermehrt aus der Tabuzone hervortreten. Hier ist es wichtig, darüber zu sprechen und soziale Begegnungen zu ermöglichen. Wir Menschen sind Rudeltiere – es ist uns wichtig eingebunden zu sein und wertgeschätzt zu werden. Ist man mit psychischen Sorgen alleine, tauchen Fragen auf, wie «Braucht es mich noch?» oder «Welchen Beitrag kann ich überhaupt zum Ganzen leisten?»
Wie erkennt man, dass es einer Kollegin oder einem Kollegen nicht gut geht?
Grundvoraussetzung ist, dass Führungskräfte und Teammitglieder die betroffene Person und ihre Situation in guten Zeiten kennt. Reden über Befindlichkeiten im Alltag schafft eine Vertrauensbasis, die in belastenden Situationen hilfreich ist. Einen Beinbruch lässt sich auf einen Blick erkennen, um ein banales Beispiel heranzuziehen. Diffuser wird es, wenn sich das Verhalten oder die Leistung verändert, Absenzen schleichend zunehmen oder die Präsenzzeit übermässig hoch wird. Das Problem ist, dass wir in den meisten Fällen nicht wissen, warum dies so ist. Dies verunsichert uns. Je vertrauter wir mit einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin sind, desto leichter fällt es, in Kontakt zu treten und die dahinterliegenden Gründe zu besprechen. Es geht darum, im Führungsalltag Gelegenheiten zu schaffen, damit wir in Kontakt bleiben und Fragen stellen können. Je physischer dieser Kontakt ist, desto konkreter sind die Anzeichen erkennbar. Je nach Berufsgruppen kommen dabei unterschiedliche Formen zum Einsatz: Ein persönlicher Kontakt vor Ort bei einem Schichtwechsel oder eine E-Mail, ein Telefonanruf oder ein Video-Kontakt im Homeoffice.
«Bereits zu wissen, dass jemand da ist, wenn ich es brauche, kann helfen und Beschwerden vorbeugen.»
Belastungen und Ressourcen im Überblick
Im Zusammenhang mit der Gesundheit am Arbeitsplatz werden im fachlichen Kontext oftmals die Begriffe «Belastungen und Ressourcen» verwendet. Um gesund zu bleiben, sollen sich diese im Idealfall in einer Balance befinden.Belastung kann auch als Stressfaktor bezeichnet werden; solche treten im gesamten Spektrum des Menschen auf. Konkret können dies familiäre Sorgen, Unsicherheiten, schwere Krankheiten, Überforderung am Arbeitsplatz, Zeitdruck, Konflikte mit Kollegen sein. Spricht man von Ressourcen sind Merkmale gemeint, die uns Energie geben und die helfen, eine belastende Situation besser zu meistern. Zum einen sind dies Einflüsse, die uns Menschen ausmachen, wie unser persönliches Energielevel oder eine bejahende Einstellung. Im beruflichen Kontext spielt das Team und ein positives Vorgesetztenverhalten eine zentrale Rolle. «Bereits zu wissen, dass jemand da ist, wenn ich es brauche, kann helfen und Beschwerden vorbeugen», erklärt uns Curdin Sedlacek dazu. «Ein wertschätzender Umgang und die Möglichkeit sich am Arbeitsplatz einzubringen und damit ein Teil von etwas Ganzem zu sein, gehören zu weiteren zentralen Ressourcen».
«Es sind nicht alle Belastungen vermeidbar. Daher ist von zentraler Bedeutung, dass Ressourcen gefördert werden.»
Welchen Beitrag kann eine Arbeitgeberin leisten, dass Belastungen und Ressourcen im Lot bleiben?
Unternehmen können Rahmenbedingungen schaffen, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Arbeitsplatz immer wieder eine Balance finden. Dafür sollte ein guter Umgang mit der Arbeitslast, dem Zeitdruck und den Konflikten gefunden werden. Jedoch sind nicht alle Belastungen vermeidbar. Daher ist von zentraler Bedeutung, dass Ressourcen gefördert werden. Beispiele hierfür sind, dass sich die Mitarbeitenden in ihrer Arbeit einbringen können und sie Wertschätzung sowie einen guten Teamspirit erfahren. Und wenn diese Balance einmal nicht mehr stimmt, sollen Strukturen vorliegen, dass Führungskräfte frühzeitig reagieren und Unterstützung anbieten können.
Wo liegt denn die Trennlinie zwischen den Anstrengungen eines Unternehmens und der eigenen Verantwortung für die Gesundheit?
Tatsächlich, es gibt hier beide Seiten, das persönliche Gesundheitsverhalten und die Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz. Jede Person soll das mögliche tun, um gesund an die Arbeit gehen zu können. Die Arbeitgeberin auf der anderen Seite hat eine Fürsorgepflicht, damit die Belegschaft während der Arbeit gesund bleibt. In Zeiten, in denen anhaltend mehr geleistet werden muss, tun Unternehmen gut daran, das Notwendige zu veranlassen, dass ihre Mitarbeitenden fit, motiviert und leistungsfähig bleiben. Eine Arbeitgeberin kann gesundheitliches Verhalten nicht vorschreiben, jedoch Unterstützung bieten, zum Beispiel für Prävention oder beim Begleiten von Krankheiten.
Was können Vorgesetzte konkret tun um das Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu erhalten?
Wenn Führungskräfte Gesundheit als wichtig erachten, sind sie ebenso interessiert, dass ihre Mitarbeitenden gesund bleiben. Gesundheitsbewusste Führungskräfte sind auch eher bereit, Massnahmen zu ergreifen, damit sich das Team gesund verhalten kann. Diese Haltung spüren die Mitarbeitenden und beginnen, das Thema Gesundheit ebenfalls wichtig zu nehmen. Diese Vorbildfunktion ist messbar. Sie funktioniert aber nur, wenn die Führungskräfte einen mitarbeiterorientierten Führungsstil pflegen.
Zudem liegen viele weitere Ressourcen im Handlungsspielraum der Führung: Wie bilde ich ein gutes Team und wie leben wir Unterstützung? Welche Entscheidungen können Teammitglieder treffen? Wie halten wir eine positive Stimmung? Wer kriegt welche Aufgaben? Hier kann eine Führungsperson einiges für ein «gesundes Team» bewirken.
Sie schulen Führungskräfte. Was sind deren Anliegen?
Führungspersonen mit Mitarbeiterverantwortung sind oft in einer Sandwichposition und haben eine Filterfunktion. Neben all den fachlichen und personellen Anforderungen auch dafür zu sorgen, dass man selber in der Balance bleibt, ist ein grosses Thema. Führen braucht aber auch Zeit und diese im Alltag zu finden, ist nicht immer einfach. Oftmals höre ich von Unsicherheiten, wie man mit Softfaktoren (private Themen, Wohlbefinden, etc.) umgehen soll. Wer sich aber mit Führungsarbeit befasst und sich die Zeit nimmt, bekommt die Belohnung später in Form von leistungsfähigen und motivierten Teams.
Sie sprechen den Umgang mit Softfaktoren an. Gibt es hier branchenspezifische Unterschiede, wie Führungspersonen diese umsetzen?
Ich habe mit unterschiedlichen Branchen gearbeitet; man kann Führungskräfte nicht über einen Leisten schlagen. Es gibt bei den «gröbsten» Tätigkeiten Vorgesetzte, welche ein sehr gutes Gespür für Menschen haben und das Zwischenmenschliche voll im Griff haben. Und es gibt Leute in sozialen Einrichtungen, denen die persönliche Nähe zu ihren Mitarbeitenden schwerfällt. Bei den VBZ zum Beispiel gibt es im Fahrdienst Teamleiterinnen und Teamleiter mit weit mehr als 50 Unterstellten. Trotz Schichtbetrieb kennen viele von ihnen die Befindlichkeiten ihrer Leute, indem sie mit ihnen telefonieren oder bei einem Schichtwechsel vor Ort sind. Schon die Einstellung «ich kümmere mich darum, auch wenn es fünfzig sind» ist bewundernswert. Dabei hilft es, im Unternehmen eine menschenorientierte Kultur zu haben. Das Gute ist, eine gesunde Führung mit gesundheitsförderlicher Führungsstil, ist lernbar.
«Eine Führungsperson muss nicht die Probleme ihrer Leute lösen. Soviel Zeit und die Kompetenz dafür hat sie gar nicht.»
Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen einer Führungsperson?
Führung kann Unterstützung bieten, damit motiviertes und leistungsfähiges Arbeiten möglich ist. Eine Führungsperson muss jedoch nicht die Probleme ihrer Leute lösen; sie muss weder eine Psychiaterin noch eine Schuldenberaterin sein. Soviel Zeit und die Kompetenz dafür hat sie gar nicht. Aus Untersuchungen wissen wir, dass Führungskräfte tendenziell zu lange warten, bis sie etwas ansprechen. Sie tun gut daran, früh zu reagieren und bei Bedarf weitere Unterstützung zu holen.
Wenn Sie einen Wunsch an die Unternehmen richten könnten, wie würde dieser lauten?
Die Thematik der psychischen Gesundheit ist noch wenig akzeptiert. Hier einen selbstverständlicheren Umgang zu erlangen, ist wünschenswert. Psychische Krankheiten werden oftmals stigmatisiert, auch Betroffenen fällt es schwer, von ihrem Leiden zu sprechen. Psychische Krankheiten sind jedoch viel verbreiteter als man generell annimmt. Und unter Corona ist es ein Thema, das weiter zunimmt. Besonders achten müssen wir hier auch auf unsere Jugendlichen und Lernenden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Curdin Sedlacek ist Bewegungswissenschaftler und Partner der Conaptis GmbH, einem auf betriebliches Gesundheitsmanagement spezialisiertes Beratungsunternehmen. Bereits früh in seiner Laufbahn verspürte er den Wunsch, einen Beitrag für die Gesundheit und die Zufriedenheit in der Arbeitswelt zu leisten. Heute berät er Unternehmen, trainiert Führungskräfte und bringt damit wissenschaftliche Erkenntnisse sowie praktische Handlungsmöglichkeiten in unterschiedliche Branchen. Im vergangenen Halbjahr hat er, in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement der VBZ, Führungskräfte zum Thema Früherkennung und zu einem gesundheitsfördernden Führungsstil geschult. In seiner Freizeit, bewegt sich Curdin Sedlacek ausgiebig, bevorzugt rennend in den Bergen. Er lebt mit seiner Familie im Zürcher Oberland.
VBZ gesund unterwegs
Mit der Vision «Gemeinsam gesund» investieren die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) in gesunde Arbeitsbedingungen. Ein ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement bietet dafür den Rahmen; Kernelemente sind Prävention, Früherkennung und ein umsichtiges Case Management. 2019 wurden die VBZ zum dritten Mal mit dem Zertifikat «Friendly Work Space» ausgezeichnet. Das Qualitätssiegel, vergeben von der Gesundheitsförderung Schweiz, zeichnet Organisationen aus, die sich systematisch für gute Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden einsetzen. Wie das konkret bei den VBZ umgesetzt wird, erzählen die Mitarbeitenden im Video gleich selbst.