DIESE EINRICHTUNG FÜR BLINDE ÖFFNET SEHENDEN DIE AUGEN … UND DAS HERZ

Die neue Limmattalbahn und ein besseres Busangebot: Per 11. Dezember 2022 bewegt sich einiges im Limmattal. Auf diesen Anlass hin stellen wir in einer Mini-Serie Persönlichkeiten vor, die im Limmattal ebenfalls etwas bewegen. Heute: Gerald Knoll, Stellenleiter des Bildungs- und Begegnungszentrums BBZ, einem Treffpunkt für blinde und sehbehinderte Menschen in Dietikon.

Bestimmt trägt auch die Adventszeit dazu bei, dass der Journalist dieses Artikels beim Griff in die Wörterkiste häufig die charmanten und wohlwollenden Exemplare rauspflückt. Was aber nicht bedeutet, dass die vorliegende Geschichte über das Bildungs- und Begegnungszentrum BBZ auf unstatthafte Weise verklärt worden wäre.

Nein, diese Einrichtung des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV ist tatsächlich eine grandiose soziokulturelle Sache. Und das, obwohl sie im «Gaggehüü» draussen liegt, wie der trendige Urbanist sagen würde – sprich in Dietikon, also in der Agglo, und da ganz konkret an der Moosmattstrasse, umzingelt von Outlets oder Riesenfilialen von Möbel-, Sport- oder Tiernahrungsanbietern. Diese Lage und Umgebung mag den Eindruck der «Oase der Herzlichkeit» noch verstärken, doch in erster Linie liegt das natürlich am Innenleben des BBZ, will sagen am Personal und dessen Angebot und Programm.

Hauptverantwortlich dafür ist Stellenleiter Gerald Knoll. Der gelernte Energieelektroniker hat sich nach dem Ausstieg aus dem angestammten Beruf zum Arbeitsagogen weitergebildet. Später im Kreis 5 den Treff der Offenen Jugendarbeit Zürich OJA geleitet – und da auch das heute sehr beliebte Jugendkulturlokal «Planet 5» mit aufgebaut. Danach amtete der inzwischen 57-Jährige Vollblutpädagoge als Betriebsleiter des Studentischen Zentrum an der ETH Zürich, bis er am ersten Oktober 2019 den Job im Bildungs- und Begegnungszentrums in Dietikon übernimmt.

Die handgefertigten Produkte werden auf dem Markt feilgeboten

Eröffnet worden ist diese Einrichtung im März 2007. Und zwar mit dem Zweck, blinden und sehbehinderten Menschen aus den Raum Zürich als Begegnungsstätte zu dienen. Darüber hinaus ist das BBZ – nomen est omen – aber eben auch ein Ort der Weiterbildung. Und der Kreativarbeit. Und, dank des professionellen Coachings, last, but not least auch ein Ort, der diesen beeinträchtigten Menschen im Alltag Struktur gibt. Zum Beispiel, indem sie hier das Mittagessen und den Zvieri zubereiten und zusammen geniessen (wobei viel gewitzelt und gelacht werde, wie Gerald Knoll berichtet). Oder indem sie Produkte von Hand und mit Hilfe von Geräten aus Filz, Holz, Keramik, Speckstein, Wachs oder Wolle fabrizieren und diese unter anderem am Frühlingsmarkt in Dietikon oder am Adventsmarkt in Baden feilbieten.

Das Betreuerteam besteht neben Gerald Knoll aus Franziska Welti und Michel Piazza, zu dritt vereinen sie 200 Stellenprozente auf sich. Dazu kommt die Unterstützung einer Praktikantin oder eines Praktikanten sowie von «freiwilligen Engagierten», wie Knoll betont. Sie kümmern sich um rund 30 Personen, die im BBZ ein- und ausgehen – die einen kommen an allen vier Öffnungstagen, sprich am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag. Andere haben reduziertere «Pensen» und kommen zwei- bis dreimal die Woche. Willkommen sind alle sehbehinderten und blinden Menschen jeglichen Alters, wobei Minimalkenntnisse in deutscher Sprache erwünscht sind. Ein zentraler Punkt ist auch die gesicherte Finanzierung, was bei IV-Empfängern aber in der Regel der Fall ist.

Auf die Frage, wie das Team reagiere, wenn jemand angemeldet sei, aber nicht auftauche, sagt Knoll, die Gäste seien allesamt Erwachsene, darum gelte grundsätzlich das Prinzip der Eigenverantwortung. «Aber natürlich nehmen wir Kontakt auf, wenn jemand, der sich angemeldet hat, nicht erscheint … nicht als Kontrolle, sondern aus Interesse am Wohlergehen der entsprechenden Person.»

Bis zu 30 Gäste frequentieren das BBZ

Beim Besuch des Journalisten vor ein paar Wochen sind alle da, die ihr Kommen für diesen Montag angekündigt haben. Die Frühaufsteher:innen trudeln gleich um neun Uhr ein, wenn das Zentrum die Türen öffnet, bei jenen, die gerne etwas länger schlafen oder eine weitere Anreise haben, wird es gegen zehn Uhr.

Sie heissen Gaby, Roberto, Luca, Anton, Birsen, altersmässig sind sie zwischen 20 und Mitte 50. Bei ihnen allen ist zu spüren, dass sie hier, im dritten Stock des Bürohauses, in dem sich das BBZ befindet, ein zweites Zuhause oder gar eine zweite Familie ausserhalb der eigenen vier Wände gefunden haben (und deshalb der soziokulturellen Einrichtung meist jahrelang die Treue halten)  – sie fühlen sich nämlich sichtlich wohl.

Es wird munter geplaudert oder gefachsimpelt, anhand der Orientierungshilfen bewegen sie sich souverän durch die weitläufigen Räumlichkeiten, vom Computer in die Lounge, von der Küche zur Instrumenten- und Spielecke, von der einen zur anderen Werkbank oder auf die Toilette. Die einen lesen einen Text in Braille-Schrift, andere knüpfen Garn mit der Makramee-Technik, Luca webt an einem Sitzkissen aus Filzwolle, Gaby, die auf dem einen Auge noch einen Sehrest von rund zehn Prozent hat, arbeitet malend an einem Bild.

Und immer wieder mal ruft jemand durch den Raum: «Kann bitte rasch jemand kommen?». Und dann tun je nach Anwesenheit Franziska, Michel oder Gerald, wie ihnen geheissen. Gehen von Platz zu Platz, stehen mit Rat und Tat beiseite, nehmen sich für jede und jeden die Zeit, die benötigt wird. Dazwischen erledigt Stellenleiter Knoll im Büro administrative Arbeiten – und all das so tiefenentspannt, als käme er direkt aus einem dreimonatigen indischen Ayurveda-Retreat. Die Frage «Was, Herr Knoll, ist ihr grosses Geheimnis?» ist deshalb Pflicht. Er lacht und scherzt, er fahre halt viel Mountainbike und sei oft wandernd unterwegs, das entstrapaziere sein Dasein. Dann aber fügt er ernsthafter hinzu, es sei wohl die Vielseitigkeit der Aufgabe, in der er viele seiner Talente anwenden und einbringen könne, von handwerklichen Unterhaltsarbeiten über das soziale Betreuen und Schulen bis hin zu gewissen Eigenwerbe-Aktivitäten: «Wir produzieren immer wieder mal kurze Videos, um die Menschen auf uns aufmerksam zu machen, und ihnen zu zeigen, weshalb das BBZ eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe innehat.»

Wer ein paar Stunden hier drin verbringen darf und dabei realisiert wie einem diese sehbeeinträchtigen Menschen ohne ihr aktives Zutun die Augen (und auch das Herz) öffnen für die Wichtigkeit von funktionierenden sozialen Strukturen und – auch dies –, für ein Lebensmodell ohne permanenten Erfolgsdruck, ohne Hektik und Gewinnstreben –, wird gerade der letzten Aussage von Gerald Knoll vorbehaltlos zustimmen.

Die neuen Wege müssen zuerst erlernt werden

Zum Schluss des Gesprächs landen wir – logo, das ist das Thema dieser Serie – beim Limmattal. Gerald Knoll macht kein Geheimnis daraus, dass sich das BBZ auch wegen der tieferen Miete in Dietikon und nicht in der Stadt Zürich befinde: im Sozialbereich werde jeder Franken zweimal umgedreht, bevor man ihn ausgebe, «und bei einer Einrichtung wie der unsrigen, die auf Spenden und die Einkünfte aus den erwähnten Marktverkäufen im Frühling und an Weihnachten angewiesen ist, gilt das natürlich umso mehr.»

Zum Glück aber sei die ÖV-Anbindung schon bisher gut gewesen, durch kürzlich erfolgte Eröffnung der Limmattalbahn werde sich die Situation zusätzlich verbessern. Selbstverständlich müssten die Gäste diese neue Gehstrecke mit der Unterstützung von Orientierungs- und Mobilitäts-Coaches zuerst erlernen, wie das bei jeder verkehrstechnischen Neuerung der Fall sei. «Aber nach vier bis fünf Wiederholungen haben sie das drauf», so Gerald Knoll.

 

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