«Die Schreckensbilder laufen in der Endlosschlaufe»

Mit einem Unfall bricht über alle Beteiligten und deren Familien ein Schicksalsschlag herein. Kundenberater Thomas und Sozialberaterin Brigitte Gerig über die Folgen für die Fahrdienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.

Über dieses Thema will eigentlich niemand so wirklich sprechen. Weil es Wunden aufreisst. Und Gefühle hochkochen lässt. Solche, von denen man nicht so recht weiss, auf wen man sie richten soll. Denn bei einem Unfall verlieren immer alle.

«Ich kann unterdessen darüber reden», erklärt Thomas* und lässt dennoch im Dunkeln, was in ihm ablief, als es geschah. Nur soviel: «Im ersten Moment habe ich einfach funktioniert». Damals, vor acht Jahren, lenkte der Kundenberater bei einem «Springer»-Einsatz im Fahrdienst ein Tram der Linie 13 vom Limmatplatz her in Richtung Escher-Wyss-Platz. «Die Frau fuhr mit dem Velo plötzlich von links vor das Tramgleis». Er wird still. Hat die Radfahrerin überlebt? Stummes Kopfschütteln.

Bilder und Geräusche in der Endlosschlaufe
Was so ein Erlebnis bei den Fahrerinnen und Fahrern auslösen kann, weiss Brigitte Gerig. Die VBZ-interne Sozialberaterin ist seit ihrem Stellenantritt im 2010 die erste Anlaufstelle in den Tagen nach einem Unfall. Die Nachbetreuung ist freiwillig, wird aber empfohlen. «In der ersten Zeit sind die meisten komplett von der Rolle. Einige erstarren, andere brechen ein.». Die Symptome der Stressreaktion reichen von Erschöpfung über Schlaflosigkeit und Alpträumen bis hin zu Panikattacken oder sozialem Rückzug. Vor allem aber wiederholen sich die Bilder des Unfalls – und damit sind auch Geräusche gemeint – sich am Anfang in einer Endlosschlaufe. Aber auch später kann der Schreckensmoment durch einen Trigger immer wieder ausgelöst und neu durchlebt werden. Bei schweren Ereignissen empfiehlt sie deshalb zusätzlich psychotherapeutische Unterstützung. Oft zeige sich der psychische Stress nämlich in körperlichen Symptomen und werde von den Betroffenen selber nicht als Reaktion auf den Unfall erkannt.

«In der ersten Zeit sind die meisten komplett von der Rolle. Einige erstarren, andere brechen ein.»

«Trotzdem ist wichtig, dass die betroffenen Fahrdienstmitarbeitenden so bald als möglich wieder fahren, damit sich Angst und Stress für die nächste Fahrt nicht festsetzen», erklärt Gerig. Auch Thomas war nach zwei Wochen wieder im Einsatz. Natürlich nicht ohne Unterstützung. Der Trampilot wurde begleitet, ausserdem durfte er sich bei Tag und Nacht an seinen Vorgesetzten wenden.

Die Psyche löst sich vom Körper

Die Spuren, welche die Tragödie bei ihm persönlich hinterliess, wurden Thomas erst drei Monate später bewusst. Dann aber schlagartig. Er überquerte eben, schon zum vierten Mal an diesem Tag, im 7er den Bahnhofplatz in Richtung Central, als er den Zusammenbruch in sich aufsteigen fühlte. Sofort forderte er per Notruf Unterstützung an. Soviel weiss er noch. Während der Weiterfahrt bis Schaffhauserplatz, wo seine Ablösung wartete, war er immer im Gespräch mit der Leitstelle. Daran kann er sich aber nicht mehr erinnern.

«Die Psyche hat sich vom Körper gelöst», benennt er seine Amnesie. Man nennt das in der Fachsprache «Dissoziation»: Ein Phänomen, das gerne bei traumatischen – oder in diesem Falle posttraumatischen – Erlebnissen auftritt. Ab da war er vorerst nicht mehr arbeitsfähig. Er suchte einen Trauma-Spezialisten auf, anfangs täglich. Erst nach einem halben Jahr durfte er zurück zur Arbeit; vorerst im Büro.

«Hätte ich es verhindern können?»

Der Gedanke an die Familie des Opfers liess Thomas nicht los. Deshalb drängte es ihn, mit ihr Kontakt aufnehmen zu dürfen. In der Regel ist das nicht möglich und wird auch nicht empfohlen. Trauer geht einher mit Wut, und diese richtet sich verständlicherweise auf den, der das Fahrzeug lenkte. Der Ehemann des Opfers – seinerseits Betreuer bei den SBB – konnte aber nachempfinden, was in dem Fahrer vorging. Und so erfuhr Thomas, dass das Opfer zu dem Zeitpunkt das Tram aufgrund einer Erkrankung unmöglich hatte hören können und der Unfall deshalb nicht zu verhindern gewesen war. So etwas ist aber keineswegs die Regel. In der Regel bleibt der Zweifel, ob man es nicht hätte verhindern können, und dieser frisst sich tief in die Psyche hinein. Egal, wie es dazu kam.

«Bei einem so schweren Unfall erfolgt automatisch eine Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft», erklärt Sozialberaterin Brigitte Gerig, «und zwar unabhängig davon, ob der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin eine Schuld trifft oder nicht». Das Schwierige daran sei, dass bis zum Abschluss der Untersuchung schon mal ein Jahr vergehen könne – das wirkt sich besonders belastend auf die Betroffenen aus, die sich ohnehin mit der Frage quälen, ob sie anders hätten reagieren können.», meint die Sozialberaterin nachdenklich. Wie tief die Identifikation mit dem Opfer gehen kann, zeigt auch der Fall einer Buschauffeurin. Nach der Kollision mit einem Radfahrer spürte sie ihre Beine nicht mehr. Weil sie zunächst glaubte, den Mann überfahren zu haben. Der Gedanke, dass er vielleicht nicht mehr gehen kann, all die Eindrücke und Gefühle überschlugen sich in rasender Geschwindigkeit. Erst als der Verunfallte aufstand, spürte auch sie sich wieder.

Die Familie leidet mit

Die VBZ haben ein professionelles Care-System aufgebaut. Der Betreuer ist innerhalb spätestens einer Stunde nach Alarmierung vor Ort und dann nur für den Mitarbeitenden da. Der Einsatzleitbus mit getönten Scheiben, Tisch, Kaffee und kühlen Getränken wurde auch für die Care-Aufgabe konzipiert. Sobald ein Serviceleiter vor Ort ist, versucht dieser, das Einverständnis der Polizei vorausgesetzt, den Fahrdienstmitarbeiter aus dem Zentrum des Geschehens herauszunehmen. In wirklich schweren Fällen wird unmittelbar ein Anwalt der ersten Stunde aufgeboten.

«Das hört nie auf, es wird nur schwächer»

Allerdings hört das Erlebte nicht am Arbeitsplatz auf. Auch die Familie muss damit klar kommen. Den damals 46-jährigen Thomas kostete der Unfall am Ende die Ehe. Der Mann, den man seiner Frau nach dem Ereignis nach Hause gebracht hat, war nicht mehr derselbe. «Meine Ex-Frau ist eine pragmatische Person. Gibt es ein Problem, wird es gelöst». Ein Trauma ist aber nicht so ohne weiteres lösbar. «Mit dieser Situation war sie überfordert», meint er ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme. «Wissen Sie, das hört nie auf, es wird nur schwächer». Die letzte Panikattacke habe er vor rund einem Jahr gehabt. Damals hätte er einen Kollegen ablösen sollen, am Klusplatz. Sofort erkannte er die Fahrzeugnummer. Es war «sein» Unfallfahrzeug. Zwar sei er schon einige Male wieder in dieses Tram gestiegen, aber nie als Fahrer. «Mein Puls stieg auf 160». Natürlich hat er diese Fahrt dann nicht übernommen.

Heute könne er besser nachempfinden, wie es jemandem ergehe, der so etwas durchleben muss, erzählt Thomas. So wie neulich, als ein Fahrzeug auf dem Tramtrassee mit einem Fussgänger zusammenstiess. Als sein Team mit sechs Mann an der Unfallstelle ankam, musste alles schnell gehen. Sich um den Verletzten kümmern, absperren, sichern. Manche Leute standen mit gezückten Handys da. Mittendrin zitternd die Trampilotin. Thomas unterbricht seine Erinnerung. Die Tränen kommen ihm hoch, seine Stimme vibriert. Kurz fasst er sich wieder, erzählt weiter. Er habe die Frau kurz vom Platz weg gebracht, weil sie das einfach gebraucht habe.

Unvorsichtigkeit bedeutet Gefahr

Bei einem schwerwiegenden Unfall bricht immer unermessliches Leid über alle Betroffenen und deren Angehörigen herein. Aber schon das Wissen, im beruflichen Alltag jederzeit Mitverursacher solchen Leids werden zu können, ist harte Kost. In Zürich sind tagtäglich massenhaft Leute unterwegs. Vielen ist nicht bewusst, welcher Gefahr sie sich aussetzen, wenn sie nicht aufpassen im Verkehr. Die Trampiloten und Busschauffeure müssen jederzeit voll präsent sein, wenn es zur Beinahe-Kollision kommt, bedeutet dies einen immensen Stress, und wenn es tatsächlich Verletzte gibt, ist auch die Psyche des Fahrdienstmitarbeiters in Gefahr.

Auch Gerig plädiert für mehr Rücksicht im Strassenverkehr: «Man muss sich bewusst sein, dass bei einem Notstopp auch die Fahrgäste im Inneren des Fahrzeugs verletzt werden könnten.» Trotzdem, mahnt Thomas, darf die Angst kein Begleiter sein. «Wer sich als Chauffeur fragt, ob heute vielleicht etwas passieren könnte, der darf eigentlich gar nicht ins Fahrzeug einsteigen.»

*Name der Redaktion bekannt.

Leichter Rückgang der Schadenereignisse

Die Verkehrsbetriebe Zürich informieren in einem Communiqué über die Schadenstatistik 2018.

 

 

 

 

 

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