«Die mussten aufeinanderprallen»

Willi Wottreng wird anlässlich des Events «Zürich liest» im Krimi-Tram der VBZ aus seinem Roman «Denn Sie haben daran geglaubt» vortragen. Wir haben ihn vorgängig zum Interview getroffen.

Der spannendste Krimi ist bekanntermassen die Realität. Keiner weiss das besser als Willi Wottreng, der – seinerzeit Student der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft – als Aktivist der 68er-Bewegung tiefe Einblicke in die Szene gewann. Der Berufsschullehrer, Buchhändler für Arbeiterliteratur und Journalist Wottreng blieb stets mit Zürich und  dem Quartier rund um die Langstrasse verbunden. Heute engagiert sich der 69-jährige für Minderheiten in der Schweiz und besonders für die Jenischen, Sinti und Roma. Seinen Erfahrungsschatz hat er als Autor in zahlreiche Bücher einfliessen lassen.

Wottreng entführt nun anlässlich der Veranstaltung «Zürich liest» am Samstagnachmittag (28.10., 13.30 bis 14.45 Uhr) im Krimi-Tram der VBZ in eine Welt von Fakten und Fiktion – in die Erinnerungen und Impulse zweier Pensionäre: einer Alt-68erin und eines Polizeibeamten, die als Nachbarn im Schrebergarten eine gemeinsam erlebte Epoche aufleben lassen. Wir haben mit ihm über die Hintergründe seines neuen Romans «Denn sie haben daran geglaubt» gesprochen.

Ihr Buch «Denn sie haben daran geglaubt» bietet Identifikationspotenzial sowohl mit einer Aktivistin der 68er-Bewegung als auch einem Polizeibeamten. Ist die Geschichte als Aufruf zu einer späten Versöhnung gedacht?

Es ist kein Sachbuch, kein politisches Buch, kein Aufruf zur Versöhnung, sondern als Roman ein Versuch, Bereiche auszuloten, die man in einem Sachbuch nicht behandeln kann. Es geht nicht um eine Botschaft, ausser vielleicht um jene, dass ich versuche, beide Seiten in diesem 68er-Konflikt mit einem gewissen Verständnis und einem gewissen Lächeln zu zeichnen. So, dass man sagen muss: Die konnten sich ja gar nicht versöhnen, die mussten auf einander prallen. Man soll für beide Seiten eine gewisse Sympathie empfinden – und dadurch irritiert werden. Geschildert werden ja vor allem auch die Milieus von Fichenpolizei und Terror-Sympathisierenden.

Ihr Roman enthält viele tatsächliche Begebenheiten, wie den Überfall der RAF auf die Volksbank an der Zürcher Bahnhofstrasse im Jahre 1979 – in der Danksagung richten Sie sich auch an diverse Polizei- und Justizangehörige, die Sie getroffen haben. Woher stammen die Informationen in Ihrem Roman?

Zum einen konnte ich nach zehn Jahren in dieser Bewegung aus einem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen. Dank einer Ausstellung zur Zürcher Kriminalgeschichte, die ich im Stadthaus durchführen durfte, kam ich auch in Kontakt mit Polizisten, Ex-Polizisten und mit einem damals wichtigen Staatsanwalt. Die Fakten habe ich als Journalist recherchiert, aber die Stimmung, die ist oft meine literarische Eingebung. Der damalige Staatsanwalt Marcel Bertschi, ein ziemlich scharfer Hund, hat mich selbst auf das Thema gebracht. Er meinte, die RAF-Aktivisten an der Bahnhofstrasse müssen schweizerische Helfer und Helferinnen gehabt haben, und fragte mich «weisst du nichts darüber?». Und da ich nichts darüber weiss, hat es mich dazu angeregt, in meinem Roman eine fiktive Person zu entwickeln, die diese leere Stelle füllt.

Eine fiktive Person?

Es glaubt es ja niemand, darum lohnt es sich nicht, das zu wiederholen (lacht). Aber ich kenne das Milieu sehr gut, das hilft, dem Ganzen eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen. Mir hat sogar ein ehemaliger Polizeispitzel, Mitarbeiter des KK3, das ist die stadtzürcherische Geheimpolizei, nach der Lektüre des Buchs, gesagt, er habe vieles auch nicht gewusst von dem, was da beschrieben ist. Nun, ich weiss es ja auch nicht, aber anscheinend habe ich es getroffen. (lacht)

Ein essentieller Bestandteil der damaligen 68er-Bewegung waren Demonstrationen. Wie sind Sie dabei am ÖV vorbei gekommen beziehungsweise, wie haben sie ihn wahrgenommen?

Ausser das eine Mal, als wir für den VBZ-Nulltarif demonstriert haben, wofür man zwangsläufig auf die Gleise sitzen mussten, hat man meistens problemlos pragmatische Abmachungen getroffen – das ging gut aneinander vorbei. Übrigens haben wir ja auch demonstriert gegen Stadtautobahnen quer durch die Stadt, das sogenannte Y  – und das ist doch die beste Werbung für den ÖV, die man sich vorstellen kann.

Ihr Engagement rund um den ÖV hat Ihnen 1994 den Journalistenpreis für einen Artikel über die Linie 31, den Multikultibus, eingebracht. Worum ging es dabei?

Dieser Bus offenbart, wie ein Schnitt durch eine Crèmeschnitte, alle gesellschaftlichen Schichten der Stadt Zürich, von den Oberschichten oberhalb des Bahnhofs bis zur Proletarierschicht Richtung Schlieren hinunter. Im Artikel wird geschildert, wie man in dem Bus die sozialen Milieus spürt – anhand der Menschen, aber auch anhand der verschiedenen Gerüche, vor allem bei Regenwetter.

«Was sicher nicht nur ich, sondern auch andere aus dieser Zeit mitgenommen haben, ist der Wille zur Autonomie.»

Ein Satz in Ihrem Roman lautet «Im Alter wird vieles intensiver, bedeutungsvoller. Ausser das andere, das sich als bedeutungslos erweist». Was hat sich in Ihrem Werden als bedeutungsvoll erwiesen, was weniger?

Was sicher nicht nur ich, sondern auch andere aus dieser Zeit mitgenommen haben, ist der Wille zur Autonomie, zur individuellen Selbstbestimmung. Vielleicht auch eine gewisse analytische Schärfe und Frechheit – welche beide im Dienst dieser autonomen Lebensführung stehen. Das habe ich nicht abgegeben mit dem Älterwerden, sondern – im Gegenteil – stärker ausgeprägt, auch in neuen politischen und kulturellen Umständen. Auf der anderen Seite, was ich selbstverständlich hinter mir gelassen habe, ist das politische Projekt vom sofortigen Herzaubern einer sozialistischen Gesellschaft.

Diese Wandlung wird ja auch im Buch deutlich.

(schmunzelt). Das ist nicht sicher. Sie können Ihre Interpretation des Buches nicht mit jener des Autors gleichsetzen.

Touché. Eine der Hauptprotagonistinnen des Romans, Liz, sagt: «Ich glaube nicht, dass ich die Gesellschaft gewollt hätte, die wir anstrebten. Aber ich möchte die Erinnerung daran nicht verdrängen, ich will mein Ich nicht verlieren». Man fragt sich, ob das Willi Wottreng ist, der aus ihr spricht.

Das ist die Freiheit und das Recht der Leserinnen und Leser, so zu fragen (lächelt). Sehen Sie, ein guter Roman ist vielschichtig und hat für alle ein paar Pralinen im Angebot.

Zur Gesellschaft, die wir gewollt hätten: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich von den Zürcherinnen und Zürchern wünschen?

Die sind im allgemeinen gut unterwegs. Allerdings, wenn es eine Möglichkeit gäbe, sozialer zu sein, ohne dass man gleich einen Kuschelkurs fahren und lieb mit allen Nachbarn sein muss, wenn es also möglich wäre, soziale Fragen noch mehr in Richtung Gleichberechtigung zu entwickeln… Ich denke dabei an den Umgang mit Asylanten, und auch an die Gentrifizierung in den Quartieren. Wenn das möglich wäre, dann trage ich gerne dazu bei. Ich glaube auch, dass alte 68er zumindest im Kreis 4 und 5 einen gewissen Einfluss haben, dass zumindest diese Stadtkreise sich nicht so leicht einen Bürstenschnitt verpassen lassen.

Wenn es also eine grosse, starke 2017er-Bewegung gäbe, woran würde diese glauben?

Ich vermute, es gibt solche Bewegungen. Solche, die sich fast gegen jede Art von politischer Dominanz wehren und durch die neuen Medien so etwas wie ultra-anarchische Ideen vermitteln. Jede Generation findet ihre eigene Form des politischen Ausdrucks. Von daher wird es sicher keine demo-orientierte Bewegung mehr geben, wie es anno 68 war. Im übrigen müssen ältere Semester aufhören damit, Vorstellungen darüber zu entwickeln, was die Jungen schlauerweise machen sollten. Ich verstehe mich als Quartier-Indianer. Wenn es Leute gibt, welche finden, sie möchten den alten Indianer etwas fragen, dann ist gut. Wenn sie es selber wissen – noch besser.

*Willi Wottreng: «Denn sie haben daran geglaubt», Roman, 2017, Bilger Verlag, Zürich, 236 Seiten, ca. Fr. 32.–.

Buchfestival «Zürich liest»

Das Buchfestival «Zürich Liest» findet vom 25. bis 29.10.2017 in Zürich, Winterthur und der Region statt. Am Samstag und Sonntag, 28. bis 29. Oktober, können Sie den Geschichten auch im Tram lauschen. Hier das Programm:Samstag, 28. Oktober 2017«Todessturz» und «Tells Rache»,  Irène Mürner und Res Perrot 12.00 – 12.55 Uhr «Denn sie haben daran geglaubt», Willi Wottreng   13.30 – 14.25 Uhr «Bern ist überall», Ariane von Graffenried 15.00 – 15.55 Uhr   «Es gilt die Tat», Urs Hardegger 16.30 – 17.25 UhrSonntag, 29. Oktober «Schockfrost», Petra Ivanov und Mitra Devi s 12.00 – 12.55 Uhr«Blutrhein», Wolfgang Bortlik13.30 – 14.25 Uhr «Wir kennen uns doch kaum», Max Küng  16.30 – 17.25 Uhr     Start / Ziel der Tramfahrten: Extrafahrten-Haltestelle Bellevue Tickets: CHF 15.00 erhältlich bei Starticket.

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