Die Legende vom Guten oder Big Business?

Der öffentliche Verkehr verkörpert sehr typisch eine Urform des Teilens und der Share Economy: Hunderttausende nutzen täglich die Infrastruktur, die ein Betreiber zur Verfügung stellt und entrichten dafür einen Betrag - nach Intensität der Nutzung. Gemäss Umfragen haben bereits 55 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer Erfahrung mit den modernen Formen der Share Economy. Für vbzonline.ch Grund genug, diesen Trends nachzuspüren, sich aber auch mit den traditionellen Formen des Teilens zu befassen. Den Auftakt machen 11 Thesen, die das Phänomen zu erfassen versuchen.

These 1: Teilen und Share Economy – zugleich uralt und hochaktuell

Wer über eine Alpweide wandert, begegnet einer Urform der Share Economy. In der archaischen bäurischen Gesellschaft war das gemeinsame Wirtschaften und das Teilen überlebenswichtig. Teilen, verstanden als sozialer Austausch und gegenseitige Unterstützung zwischen Menschen, ohne dass dabei Profit im Spiel war. Auch die Bibliotheken und Ludotheken in den Dörfern und Quartieren waren und sind noch von diesem Esprit geprägt. Digitalisierung und Social Media hingegen sprengen das Persönliche, überwinden den lokalen Rahmen, verleihen diesen Urformen des Teilens neue Dimensionen.

These 2: Die Digitalisierung schafft die Basis für eine weltumspannende Share Economy im grossen Stil

Dass die Digitalisierung unser Leben verändert, gilt als Binsenwahrheit. Die IT-Revolution bewirkt so grundsätzliche «Veränderungen der menschlichen Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Umfeldes, in Umfang und Bedeutung den Bewusstseinsveränderungen vergleichbar, die mit dem Übergang von der Schrift- zur Druckkultur einhergingen und die Moderne einläuteten» (Jeremy Rifkin).
Die Kommunikationsrevolution dringt nicht nur bis in die entferntesten Winkel der Erde vor, sondern auch in das tiefste Innere unseres Geistes und verändert damit unser Verständnis von Raum und Zeit, ja beeinflusst nichts Geringeres als unsere Vorstellungen vom Sinn des Lebens.

These 3: Die Treiber sind Zugang und Vernetzung statt Kauf und Besitz

Noch bis vor nicht allzu langer Zeit verlieh die Anhäufung von Besitz das Gefühl von Image, Autonomie und Macht. Heute verschaffen sich immer mehr Menschen durch die Abkehr vom Besitz eine neue Freiheit. Die neuen gesellschaftlichen Werte stellen den Zugang (Access) und die Vernetzung ins Zentrum. Menschen entwickeln sich in einem stetig wachsenden Netz von Beziehungen und Vernetzungen. Jede zusätzliche Vernetzung führt zu nächsten Beziehungen, eröffnet grössere Dimensionen, andere Möglichkeiten. René Descartes berühmter Satz wurde längst umgedeutet in: «Ich nehme teil, also bin ich».

These 4: Verfügbarkeit entwickelt sich zu einem Lebensstil

Vorbei die Zeiten, als man fleissig für eine spezifische Investition sparte. Heute gilt die Lösung: Man will die ganze Welt und man will sie jetzt, subito. Spontan mit einem Tesla zum Sonntagsausflug? Nächste Woche auf einem Katamaran durch die Karibik gondeln? Sich in einer coolen Loft räkeln? Alles soll machbar und möglich sein. Man kauft sich einfach den Zugang zu den gewünschten Verlockungen. Und zwar immer nur auf Zeit – weil sich die Bedürfnisse bereits morgen geändert haben könnten. Sich für Besitz abzurackern und auch noch Zeit dafür aufzuwenden, diesen sorgsam zu pflegen, ist definitiv von gestern.

These 5: Share Economy will den Kapitalismus menschlicher machen und kommerzialisiert dabei schleichend die Beziehungen

Grosse historische Veränderungen, die sich radikal auf unser Leben auswirken, kommen meist unbemerkt daher. Eines Tages stellen wir verwundert fest, dass wir in einer völlig anderen Welt leben. Während der Industriekapitalismus noch ganz klar von den Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit geprägt war, verändert die allgegenwärtige Präsenz der zeitgeistig-digitalen Kommunikations- Vernetzungstechniken Schritt für Schritt unser Denken und Handeln. Digitale Formen werden zur Ware und sogar Beziehungen nehmen zunehmend den Charakter von «Gütern» an. Die Kommunikationsrevolution prägt und verändert unser Leben so markant, wie dies die Dampfmaschine und die Elektrizität während der Industriellen Revolution taten.

These 6: Netzwerke werden bedeutender als die Märkte

Die ursprüngliche Marktwirtschaft war geprägt von Austausch zwischen Verkäufer und Käufer. Im neuen Wirtschaftsmodell muss der Austausch zwischen dem Vermieter und Mieter organisiert werden, die für den temporären Gebrauch einer Leistung oder Ware einen Preis entrichten. Dafür braucht es Plattformen. Netzwerke spielen dabei die zentrale Rolle.

These 7: Die Unternehmen müssen ihre Rolle neu definieren

Ein Wirtschaftsmodell, in dem die Bedeutung von Besitz schwindet, Zugang und Nutzung dagegen die dominanten Faktoren werden und somit die neuen Werte definieren, zwingt die Unternehmen zum Umdenken. Sie müssen ihre Angebote auf die neuen Bedürfnisse ausrichten. Die Kompetenzen Produktion und Verkauf verlieren gegenüber der Vermietung und dem Design von Dienstleistungen mehr und mehr an Bedeutung.

These 8: Reputation und Vertrauen sind die neuen Werte

Überlässt man einer völlig unbekannten Person aus einem anderen Erdteil seine persönliche Wohnung (Beispiel Airbnb), wird das gegenseitige Vertrauen zum grossen Thema. Die Wohnung ist schliesslich ein wichtiger Teil der Intimsphäre und man möchte, dass die temporären Nutzer sorgfältig damit umgehen. Auch als Mieter möchte man sich versichern, an einen guten, wohlbehüteten Ort zu kommen. Durch gegenseitige Bewertungen entstand ursprünglich so etwas wie eine Netzreputation. Zunehmend ist aber der Trend auszumachen, dass ausgeklügelte Kontrollsysteme ausgebaut werden.

These 9: Share Economy, das Spiel der Eliten

Trotz aller Euphorie bezüglich der Kommunikationsrevolution und Vernetzung müssen wir uns bewusst sein, dass nur das reiche Fünftel der Weltbevölkerung auf seiner Suche nach individuellen, kulturellen Erfahrungen und Freiheiten sein Eigentum aufgibt. Die anderen vier Fünftel wünschen sich nichts sehnlicher als eine existenzielle Grundlage und sicheren Besitz.

These 10: Selbstregulierung oder gesetzliche Interventionen? Die Kritik am neuen Wirtschaftsmodell nimmt zu

Die Share Economy-Plattformen verändern und beeinflussen die traditionelle Marktwirtschaft und dessen Modelle markant. Es ist ein ganz normaler Vorgang, dass die bisherigen Platzhirsche gegen die neuen Player in ihren Gebieten Widerstand leisten. In vielen Städten laufen Taxibetreiber gegen Uber Sturm. In San Francisco wurden die Bewohnerinnen und Bewohner gar aufgerufen, über die Expansionspläne von Airbnb abzustimmen. Die Behörden sind vorerst mit Interventionen auf Gesetzesebene noch zurückhaltend. Die Zukunft wird weisen, ob es der Share Economy gelingt, durch Selbstregulierung faire Spielregeln durchzusetzen oder ob doch die Gesetzgeber regulierend auf das neue Wirtschaftsmodell einwirken müssen.

These 11: Die IT-Giganten besetzen das neue Feld

Die Möglichkeiten und Chancen des Share-Economy-Modells laden die global agierenden IT-Giganten geradezu dazu ein, sich in diesem Bereich anzusiedeln, ihn gar zu besetzen. Die Erfahrungen aus der Entwicklung der Social Media zeigen, dass diejenigen, denen es gelingt eine marktbeherrschende Position aufzubauen, den grössten Mehr- und Börsenwert generieren. Die Strategien sind ebenso offensichtlich, wie aus Sicht der IT-Giganten nachvollziehbar. Sie bauen thematisch allumfassende und somit marktbeherrschende Plattformen auf. Denn wer die Plattformen beherrscht, verdient Geld.

Wollen Sie mehr erfahren über das Teilen? Hier gehts zum Dossier unseres Fokusthemas.

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