Der gradlinige Grenzenknacker

Die VBZ-Linien sind Zürichs Lebensadern. Schnurgerade oder mit Ecken und Kurven verlaufen sie kreuz und quer durch die ganze Stadt. Dabei hat jede dieser Linien ihren Charakter, der geprägt ist von den Fahrgästen und der Strecke. In einer losen Serie gehen wir ihren Persönlichkeiten auf den Grund. Heute: Die Tramlinie 2.

Ich stehe am nordwestlichen Tor zu Zürich, in Altstetten. Vor mir der breite Tramboulevard, der schnurgerade ins Zentrum führt. Im Rücken das Limmattal. Der Blick schweift kurz nach hinten Richtung Schlieren; dahin, wo der 2er künftig führen soll, wie einst das Lisbethli. Noch beginnt seine Reise aber hier am Farbhof.

Entlang der Strecke beobachte ich anfangs den dörflich anmutenden Altstetter Charme, der mit im Vergleich dazu klinisch wirkenden Neubauten gemischt wird. Bald gehen diese über in eine eher trostlose Szenerie; alte, von Abgasen geschwärzte Häuserfassaden in Reih und Glied. Die ältere Dame auf dem Einzelsitz zu meiner Rechten schaut nicht aus dem Fenster, nur vor sich hin. Vielleicht weil sie die Autohändler, die charmelosen Restaurants und Matratzenläden mittlerweile auswendig kennt. Die Tramfahrt lässt sie über sich ergehen, in einer aufrechten Haltung. Ob sie wohl versucht, mit dem leicht borniert wirkenden Gesichtsausdruck ihre Hilflosigkeit zu kaschieren? Sie hält einen violetten Plastiksack mit beiden Händen auf ihren Schoss gedrückt. Ihre rot nachgezogenen Lippen verziehen sich zu einem verkniffenen spöttischen Strich. Sie zeigen unverkennbar, was sie von den neuzusteigenden Fahrgästen hält. Kopfschütteln. Minuten später wieder Kopfschütteln. Kopfschütteln auch, als der junge Herr mit Hornbrille zusteigt. Er scheint sich noch nicht recht zugehörig zu fühlen, versteckt sich stehend hinter einem bunten Magazin. 

Unser bis anhin ziemlich leeres Tram füllt sich immer mehr. Seit dem «Kappeli» wurden sogar die Stehplätze rar. Anzugträger und vereinzelt auch -trägerinnen drängen sich durch die Türen und positionieren sich strategisch optimal, um schnellstmöglich wieder aussteigen zu können. Kein Kopfschütteln diesmal von der älteren Dame, ihr Blick ist abwesend. Vielleicht hat sie sich schon an die hier wohnenden und arbeitenden Banker gewöhnt? Sie kamen vor längerer Zeit ins Quartier, unbemerkt zu Beginn, wie jetzt auch die Kreativen. Breiteten sich von der Stadt her wegen der Gentrifizierung der früheren Kreativ-Kreise 4 und 5 immer weiter aus, bis nach Altstetten; jenes Quartier, das wir beim Letzigrund-Stadion endgültig hinter uns lassen. Wir erreichen Höchstgeschwindigkeit – ich fühle mich ein bisschen wie im Zug. Doch schnell wird wieder gebremst, begleitet vom vertrauten Tram-Klingeln am Albisriederplatz.

Lautes Kinderlachen ertönt von der «Lounge» ganz am Ende des Trams. Die brasilianische Familie hat diese in Beschlag genommen. Daneben zwei Frauen mit Kopftüchern, ein tätowiertes Pärchen mit ihren drei Hunden, das sich lauthals streitet. Hier, auf diesem Abschnitt, sieht man im Zweier kaum Ohrstöpselträger, fast niemand schaut auf sein Mobiltelefon, es wird geredet und gestikuliert. Die Mischung der Fahrgäste erreicht ihre grösste Heterogenität. Ur-AltstetterInnen, die sich so weit in die Stadt wagen, mischen sich mit ein paar übrig gebliebenen Bankern, den Kreativen, vereinzelten Randständigen, Hausfrauen und Haustieren.

Prägt die Szene: Das Hochhaus Lochergut, wo einst Max Frisch wohnte. (Bild: Julia Müller)

Nach dem Lochergut überqueren wir die Bahngleise, es beginnt eine andere Welt. Rechterhand prägt die neue Überbauung Kalkbreite das Bild. Istanbul-Coiffeur und chemische Reinigung werden abgelöst durch trendige Cafés und Bars mit bunten runden Lämpchen. Die Frauen mit den ziehbaren Einkaufswagen sind längst ausgestiegen, die Trainerhosen auch. Am «Stauffacher» sind die Menschen am buntesten. Wer auf dieser Seite der Stadt bleiben will, verlässt das Tram.

Unser 2er überquert Sihl und Schanzengraben, die Farben werden immer weniger. Die Gebäude sind grau und bleiben grau, sind gross, aber ohne zu imponieren. Bis am Paradeplatz. Wir nehmen das oberste Ende der schicken Bahnhofstrasse mit. Hier sitzt jedes Kostüm, auch bei den Puppen in den Schaufenstern. Auf die Schickeria folgen Blumen und Gemüse, der Markt am Bürkliplatz, und dann öffnet sich der Blick über den See. Auf der Quaibrücke posieren die Asiaten mit Selfie-Sticks. Autos, Tram, Velos, zielstrebige Städter und schlendernde Touristen, hier trifft auf ein paar Spuren alles zusammen.

Wir landen am Knotenpunkt Bellevue, der uns dank der grosszügigen Gestaltung das Gefühl gibt, ein bisschen weltstädtisch zu sein. See, Oper und Sechseläutenplatz schaffen Raum. Von hier spinnen sich die andern Linien davon. Unser 2er bleibt jedoch in Begleitung; vom 4er. Zwei junge Frauen setzen sich auf den Zweiersitz vor mir, sie plaudern ununterbrochen. Nicht laut, aber doch penetrant. Enge Hosen, ein weiter, für diese Jahreszeit viel zu warm wirkender Pullover. Selbstbewusst werfen sie die langen Haare zurück. Um zu zeigen, dass sie das Tramfahren nicht nötig haben, es freiwillig machen, es cool ist? Als die eine aussteigt, hängt sich die andere sofort ans Telefon.

Zwischen schicken Geschäften verirren sich nun ihre kleinen und unbekannten Brüder. Boutiquen werden von Second-Hand-Läden abgelöst. Schaufenster präsentieren Käsewähen. Hier im Seefeld sind die Kinder alleine unterwegs, mit geschulterten Instrumenten. Die Schüler wirken seriöser als anderswo. Teenager büffeln im Tram. Man hört Deutsch, Englisch. Auch die Kinderwagen sind anders. Wie die neuen Staubsauger, für die man sich nicht mehr zu bücken braucht. Mit integrierten Taschen für alles. Weil es gut aussieht, nicht, weil man etwas darin verstauen möchte. Wieder schnurgerade nähern wir uns dem anderen Ende der Stadt, die Strasse ist hier ein bisschen beengend. Je weiter wir uns vom Herzen der Stadt entfernen, umso üppiger werden die Villen. Höschgasse, Fröhlichstrasse. Der Ausblick auf den See bleibt uns vorenthalten – nur ab und zu ein Blitzer durch die Luken der Seitenstrassen. Am Bahnhof Tiefenbrunnen schliesslich öffnet sich die Sicht ein weiteres Mal, bevor wir uns in die Schleife einfädeln.

Bereit für die Rückreise. (Bild: Julia Müller)

Infobox 2er

Streckenlänge: 8246 m Anzahl Haltestellen: 25 Persönlicher Lieblingsplatz entlang der Linie: Mikis Ramen bei der Haltestelle Lochergut – wegen meiner Liebings-Ramensuppe «Tantamen» Häufigste vorkommende Berufe der Fahrgäste (Vermutung): Kreative, Banker, VBZler, Schüler Passender Liniensong: Aretha Franklin & Ray Charles - It Takes Two To Tango 

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