Für die meditative Rubrik «Innehaltestelle» begibt sich unser Gastautor an eine Bus- oder Tramstation, hört zu oder weg, schaut hin oder her, denkt nach oder vor – und danach geht er wieder heim und schreibt das Erlebte oder Nicht-Erlebte auf. Diesmal: An der Bahnhofstrasse, wo die wie Kinderaugen leuchtende «Lucy» plötzlich ein Flashback verursachte.
Sonntag, 13. Dezember, 17.11 Uhr, Tramhaltestelle «Rennweg»
Der Bundesrat hatte am Nachmittag des 11. Dezember in einer Medienkonferenz informiert, landesweit hing das Volk den Magistratinnen und Magistraten an den Lippen. Und die wenigen, welche die Neuigkeiten über die verschärften Corona-Massnahmen am Freitag verpasst hatten – was sozusagen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist, denn die Emotionen gingen vor, während und nach der Übertragung hoch wie hawaiianische Surferwellen –, erfuhren die News spätestens am Samstag aus dem Internet, dem Radio, einem WhatsAPP-Chat, der Zeitung, was auch immer.
Anders gesagt: Am Sonntag (also zwei Tage nach dem Bundesratsauftritt) wusste die ganze Schweiz, dass am Sonntag in der ganzen Schweiz kein Sonntagsverkauf stattfindet. Die ganze Schweiz – ausser meiner Wenigkeit. Wie das passieren konnte? Fragen Sie mich was Leichteres.
Doch es war, wie es war. Und darum steuerte ich mein Velo nach vollbrachtem Tagwerk – übrigens keine Arbeit im eigentlich Sinn, ich versuchte mich als Bäckerlehrling und fabrizierte eine Art Weihnachtskonfekt; meine Freude war bestimmt grösser als die Freude der Menschen sein werden, die das essen müssen – von Wiedikon Richtung City, mit dem Ziel, so kurz vor Ladenschluss ein paar erste Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Ich brauchte ein Kochbuch, gute Socken und einen Essensgutschein für jemanden, der im Zuge der «Friday for Future»-Bewegung seine ganze Existenz hinterfragte, und als Folge davon den Alfa verkaufte, den Grill verschenkte, die Freundin verliess (zu verschwenderisch, lautete das Verdikt) und seither als Vegetarier dahinvegetiert. Idealer Ort also war die Füsslistrasse. Da befindet sich der Orell Füssli (Kochbuch) und der St. Annahof (Socken), und bis zum Vegi-Restaurant Hiltl ist es ein Katzensprung.
Der schier unfassbare doppelte Fehler
Möglich, dass es am frühen Eindunkeln lag. Oder daran, dass meine Augen vom Mehl staubig geworden waren. Jedenfalls fiel mir auf der ganzen Velofahrt nicht auf, dass die Trottoire ziemlich entvölkert und die Läden ziemlich geschlossen wirkten. Als ich dann aber nach dem offiziell illegalen Parkieren des Zweirads an einer Hauswand vor dem geschlossenen Orell Füssli stand (und dabei erstmals überhaupt bemerkte, wie hübsch diese Füsslistrasse eigentlich aussieht … jedenfalls wenn sie praktisch meschenleer ist), wurde ich mir meiner unfassbaren Doppel-Fehlleistung bewusst.
Fehler eins: Der 13. Dezember 2020 war gar kein Sonntagsverkaufssonntag.
Fehler zwei: Selbst wenn der 13. Dezember 2020 ein Sonntagsverkaufsonntag gewesen wäre, wären die Läden dennoch geschlossen gewesen, weil der Bundesrat am Freitag … ja, Sie wissen schon.
Da ich jetzt aber schon mal da war, beschloss ich, die wenigen fehlenden Schritte bis zur Bahnhofstrasse unter die Füsse zu nehmen, mit dem primären Ziel, mir mal diese berühmte Weihnachtsbeleuchtung anzuschauen. Rein technisch wusste ich zwar einiges über sie – 11550 speziell geschliffene Glaskristalle, computergesteuert beleuchtet von 23100 sparsamen LED-Lampen, die in der sechswöchigen Betriebszeit 3000 Watt Strom verbrauchen, was etwa gleich viel ist, wie wenn ich 30 Stunden TV schaue – doch «live» hatte ich «Lucy», unglaublich, aber wahr, noch nie erlebt.
So kaufte ich mir einen Sack heisse Maroni, stellte mich neben der Tramhaltstelle «Rennweg» unter einen Baum und blickte erwartungsfroh nach oben. Dabei passierten zwei Sachen, beide in meinem Kopf. Zuerst kam mir tatsächlich der Satz «‹Lucy› leuchtet wie Kinderaugen» in den Sinn. Das ist für den Berufsstolz eines Journalisten, der doch gewisse Ansprüche an sein Schaffen stellt, ähnlich kränkend wie für Roger Federer eine 1:6-0:6-Niederlage gegen die Nummer 395 der Weltrangliste.
Als es mir schliesslich mit Ach und Krach gelungen war, diese schlimme Phrase aus den Gedanken zu verbannen, löste der irgendwie hypnotische Effekt dieses sanft auf und ab wogenden Lichts unversehens ein Flashback aus. Konkret war eine Erinnerung an eine verschollene Erinnerung, die ich hier nun nochmals erzählen will.
Die Hundenamen-Hitparade damals und heute
Zuerst aber die hartgesottenen Fakten. Beim nun gleich thematisierten Objekt handelt es sich um eine Vinyl-Single (für Lesende, die der sogenannten «iGeneration»* angehören – das ist ein kleiner, schwarzer und gerillter Tonträger, den eure Grosseltern, als sie noch jung, cool und wild waren, mit Hilfe eines Plattenspielers zum Klingen brachten und dazu je nach Stimmung die Hüften verrenkten oder sich mit schmachtendem Blick gegenseitig das Haar aus dem Gesicht streichelten und dann … nein, lassen wir das, ihr könnt sie ja selber fragen).
Die Vinyl-Single, von der hier die Rede ist, wurde vom Kantonalen Zürcher Tierschutz veröffentlicht – und zwar in den frühen 1970er-Jahren. Wie jede solche Schallplatte hatte sie eine A- und eine B-Seite. In der Regel war das tolle Lied auf der A- und das «Lückenbüsser»-Stück auf der B-Seite, doch weil es sich im konkreten Fall nicht um Musik, sondern um erzählte Geschichten handelte, spielte dieses Kriterium keine Rolle. So hiess die Geschichte auf der A-Seite schlicht und ergreifend «Waldeli», und jene auf der B-Seite nicht minder schlicht und ergreifend «Blacky».
Beides waren Namen – es ist nun nicht das grösste Rätsel der Welt – von Hunden. Notabene keine, die es bei der letzten offiziellen Umfrage von 2018 in die Top 10 der männlichen Schweizer Hundenamencharts geschafft hätten. Dort stand nämlich «Rocky» auf Platz 1, gefolgt von «Lucky», «Max», «Snoopy», «Jack(y)», «Leo», «Nero» (okay, das ist «Blacky» auf Italienisch), «Bobby», «Simba» und, last, but not least, «Jimmy».
Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Hitparade in den erwähnten 1970er-Jahren ganz, ganz anders ausgesehen hätte (unseres Wissens existierte sie damals noch nicht) – zumindest im Kanton Zürich wären «Waldeli» und «Blacky» wohl mit gigantischem Abstand auf den Rängen 1 und 2 gelegen.
Schliesslich ist es eine Tatsache, dass in den meisten Fällen die Kinder den Rufnamen eines Familienhundes bestimmen dürfen – und die Zürcher Kinder der 1970er-Jahre liebten «Waldeli» und «Blacky»! Grund dafür ebendiese Vinyl-Single, die jedem neuen Erstklässler im ganzen Kanton vor Weihnachten als Geschenk abgegeben wurde.
Schon das Plattencover mit einem treuherzig dreinschauenden Dackel und den Worten «e Märliplatte vom Jugendschriftsteller Hans Schürch … für eusi Chind vom Tierschutzverein usegäh, damit d Chinde d Freud a de Tierli bibhalted – oder überchömed» war herzzerreissend. Und dann erst die beiden Geschichten!
Auf der A-Seite ging es um den niedlichen Dachshund «Waldeli», den ein Vater und seine zwei herzensguten Kinder aus einem Tierpflegeheim oben beim Zoo abholen, um ihn der Gemahlin beziehungsweise Mutter zum Weihnachtsgeschenk zu machen.
Das war total herzig, aber von der Suspense her nichts gegen das Drama auf Seite B: In dieser Story wird der ortsunkundige Mister Brown an einem Wintertag in Davos von heftigen Stürmen und gar einer Lawine überrascht. Zum Glück aber hatte der Engländer seinen treuen Gefährten «Blacky» mit dabei: der tapfere Schäferhund nämlich stürmt nach dem Unglück sofort hinunter ins Tal und holt Hilfe. Schliesslich gelingt es der alarmierten Rettungsmannschaft, den Engländer zu bergen und zu retten – und das dann zufällig grad noch an Heiligabend!
Der Geschenk-Schein trügt ein bisschen
Diese Vinyl-Single ist heute eine Rarität, sie wird teilweise für knapp 30 Euro im Internet angeboten. Ich habe die meine vor vielen Jahren an einem Flohmarkt verkauft – für 50 Rappen! Klar, rein vom Business-Aspekt her gesehen, war das völlig bekloppt. Aber emotional betrachtet, fühlte es sich an wie das Ende der Rekrutenschule – es war die immense Befreiung von einer schweren Last.
Denn obwohl es auch mir jahrelang nicht gelang, beim Abspielen der Hörgeschichten von «Waldeli» und «Blacky» die Tränen der Rührung zu unterdrücken – im Gegenteil, ich heulte wie ein Schlosshündchen –, spürte ich instinktiv, dass diese Gefühlsduselei forciert wurde. Das war ein Begriff, den ich natürlich als kleiner Bub nicht kannte. Gleichwohl aber spürte ich, dass dies keine aufrichtigen und «freiwilligen» Tränen waren, dass eine unsichtbare Macht mein Empfinden manipulierte und mich zum emotional verführten Opfer eines Brauchtums machte, von dem ich doch eigentlich nur etwas wollte, und das waren Geschenke.
Ja, das war sie, die Erinnerung an die Kindheitserinnerung, zu der mich «Lucy» an diesem Sonntag ohne Weihnachtsverkauf zurückkatapultiert hatte. Ich zerkaute das letzte Maroni, war den Sack mit den hölzernen Schalen in den Abfalleimer, kaufte für meinen rundum geläuterten Kumpel bei Hiltl einen fetten sprich hochdotierten Gutschein und radelte zufrieden heim. In diesem Sinne – allseits schöne und Festtage!
PS: ich weiss, das mit dem Vegi-Gutschein klingt grosszügig und nett, doch der Schein trügt ein bisschen, die «Waldeli»-Single beziehungsweise die Abneigung gegen alle Arten von Gefühlsduselei hallt nämlich bis heute nach – ich muss gestehen, dass ich in Tat und Wahrheit drauf und dran war, dem Kumpel ein T-Shirt zu schenken, das ich jüngst in einem Trash-Laden-Schaufenster hängen sah und auf dem zu lesen war: «Wenn mir langweilig ist, schreibe ich bei chefkoch.de unter jedes vegetarische Rezept: Ich hab noch Hackfleisch dran gemacht, dann wars lecker.» Leider hatte es seine Grösse nicht mehr, und die Verkäuferin wusste nicht, ob vor Weihnachten noch eine Lieferung eintreffen würde.