Atemberaubend

Züri, kann ich Dich riechen?

Wenn ich mir Sie «da hinten» manchmal im Innenspiegel ansehe, so bemerke ich immer öfter, dass Ihre Sinne, die Ihnen «kostenlos» mit auf den Lebensweg gegeben wurden, in einer ganz fest gefügten Prioritäten-Abfolge funktionieren – wenn diese denn auch überhaupt noch funktionieren. Und manchmal finde ich das ausgesprochen schade, denn im Grunde genommen gibt uns nur die Zusammenarbeit aller Sinne gleichzeitig die Möglichkeit, überhaupt schöne Dinge (und andere…) wirklich wahr zu nehmen. Aber fangen wir mal «ganz unten» an. Sie, die Sie da hinter mir sitzen und stehen, malträtieren in erster Linie Ihren Seh-Sinn. Das Gros von Ihnen schaut auf Displays, nur sehr wenige schauen aus dem Fenster unserer Trams und Busse. Ich mache das immer wahnsinnig gerne, wenn ich selbst mal Passagier bin, ich liebe es einfach, eine Welt an mir vorbei ziehen zu lassen und zu betrachten, wie diese sich im Millisekundentakt verändert. Nun gehöre ich aber auch zu der inzwischen als in Bezug auf die Evolution «klinisch tot» zu kategorisierenden Generation, die nicht ununterbrochen surfen oder tippend kommunizieren muss. Ich muss vor allem nicht zwei Stationen vor meinem Endziel einem anderen Menschen noch telefonisch mitteilen, dass ich gleich da sein werde und namentlich nicht genannter «Schatz» doch bitte schon mal das Wasser aufsetzen oder den Nachwuchs bettfertig machen soll. Sie aber schauen unentwegt auf Ihr Display. Sie sind dabei oftmals derart auf dieses Glas-Konstrukt fixiert, dass Sie nicht einmal mehr visuell registrieren, wenn etwas technisch in unseren Fahrzeugen schief läuft. Da kann schon mal für mehrere Minuten die Innenraumbeleuchtung aus was für einem Grund auch immer ausfallen und Serviceleiter und Tram-Pilot mehrfach an Ihnen vorbei hasten, Sie zeigen keinerlei Reaktion, solange Ihr Akku nicht versagt. Ich bitte immer mal wieder in stillem Selbstgespräch darum, dass niemals eine Atombombe auf die Schweiz fällt, denn der elektromagnetische Impuls, der bei sowas entsteht, killt jeden Akku (und somit Ihr Smartphone, Ihre Smartwatch und noch viel mehr). Ich hätte weniger Angst vor dem atomaren Winter, als vor Ihrer Reaktion, wenn dann Ihr Handy nicht mehr funktioniert! Manche von Ihnen wären für meine Begriffswelt nicht mehr lebensfähig (Anmerkung: mit einem Handy kann und sollte man nicht versuchen, Nägel für eine Blockhütte zum Schutz gegen einen atomaren Winter wo auch immer einzuschlagen und nein, Google funktioniert nach Einbruch eines atomaren Winters nicht mehr, Wikipedia ebenso nicht, für einen herunterladbaren «Survival-Guide» im PDF-Format ist es dann zu spät!).

Akustisches Multitasking

Dabei hat der Mensch ein ungewöhnlich grosses Sichtfeld und könnte so viel sehen, wenn sie oder er nur wollte. Aber dann ist nun mal Urs oder Michel, Chantal oder Lea wichtiger. Auch wenn diese nur auf fünf zu neun Quadratzentimeter reduziert erscheinen, geisterhaft vor sich hin leuchten und Sie Ihr Smartphone wie eine Schokoladentafel kurz vor Anbiss vor Ihr Gesicht halten, während die Louis-Vuitton-Handtaschenkopie in der Armbeuge baumelt (sagt Ihnen der Begriff «Tennisarm» etwas?), in dem Glauben, das Gegenüber könne Sie so besser hören. Hören! Das ist eine faszinierende Sinnesgabe für meine Begriffe. Der Mensch ist sogar in der Lage, die Grösse eines Raumes abschätzen zu können, obwohl sie oder er absolut nichts sieht! Hören steht bei Ihnen auf Platz zwei der Prioritätenliste. Sie hören jedes noch so mehr oder minder inhaltsvolle Wort, welches in einem Telefonat mit namentlich nicht bekanntem «Schatz» fällt, da werden ganze Beziehungsdramen herunter gespult (ohne Rücksicht auf Verluste und andere anwesende Personen)! Und trotzdem beherrscht ein Grossteil von Ihnen die Gabe des akustischen Multitaskings – wenn Sie nicht gerade Kopfhörer tragen. Obwohl Sie gerade innigst, geradezu abgeschottet von der Aussenwelt auf Ihr Display starren oder ein oftmals recht sinnentleertes Telefonat führen, kann eine akustische «Ungleichmässigkeit», eine nicht den Erwartungen entsprechende akustische Störung innerhalb von Augenblicken Sie aus dem Konzept welcher Art auch immer bringen. Ich werde nie den Tag vergessen, als – sogar für mich – vollkommen unvorbereitet und ohne jede Vorwarnung die Haltestelle «Kalkbreite» in «Kalkbreite/Bahnhof Wiedikon» umbenannt wurde und die Frauenstimme unseres Ansagesystems diese Änderung durch meine Cobra säuselte! Ich selbst habe erst einmal für zwei bis drei Sekunden auf diesen Bildschirm da rechts neben mir gestarrt und mich gefragt, ob das eine Art Aprilscherz sein sollte. Aber Ihre Gesichter, die kann noch nicht einmal ich mit Worten beschreiben! Zahlreiche Fahrgäste schauten sich um, wendeten den Blick vom Display ab, unterbrachen ein Telefonat, weil etwas nicht den Gewohnheiten (und sowohl Ihren, als auch meinen Erwartungen…) entsprach. Diese Reaktion bemerke ich nicht einmal im Ansatz, wenn eine weitaus weniger säuselnde Stimme etwas anderes ankündigt: «Information der Züri-Linie, Streckenblockierung durch…». Spätestens nach dem «durch» schauen Sie wieder auf Ihre Displays, Telefonate werden praktisch nie unterbrochen. Diese Ansage kann auf langen Linien wie zum Beispiel der 11 oder 14 bis zu vier Mal an Ihre Ohren dringen, erst, wenn eine weitere «Ungewöhnlichkeit» durch Sie bemerkt wird (zum Beispiel Haltestellennamen, die auf jener Linie Ihnen unbekannt vorkommen oder aber das Züri da vor dem Fenster nicht mehr so aussieht, wie Sie das gewohnt sind), kommen Sie auf die Idee – nein, nicht der gleichen Durchsage mal auch zuzuhören – sondern bei «uns da vorne» nachzufragen, wie Sie wo nun hin kommen. Aber ich will Sie auch etwas in Schutz nehmen: noch nicht einmal «wir da vorne» wussten von jener Umbenennung. Lieber Betrieb, nicht nur ich hasse solche «Überraschungen»…!

Immun gegen die Gerüche Zürichs?

Der Sinn, den Sie aber vollkommen verloren zu haben scheinen oder zumindest einer sehr tief angesiedelten Prioritätsstufe zuordnen, ist Ihr Geruchssinn. Sie reagieren praktisch nicht (und wenn doch, dann so gut wie nicht wahrnehmbar), wenn Sie von im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Gerüchen umgeben sind. Ich selbst bin mit einem nicht gerade dezenten «Gesichtserker» gesegnet, insofern reagiere ich aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas sensibler auf Gerüche, aber manchmal ist es schlicht und ergreifend zu viel des Guten (oder Schlechten, je nachdem), was sich da hinter mir im Tram in bester erster Weltkriegs-Giftgasmanier verbreitet. Vielleicht kennen Sie das ja auch, dass man bei bestimmten, besonders intensiven Gerüchen meint, man bekäme keine Luft mehr. Ich gerate dann immer etwas in Panik (den meisten von Ihnen scheint das wenig auszumachen), aus diesem Grunde meide ich auch kategorisch die Parfümerie-Abteilungen in Kaufhäusern, wenn es sich irgend möglich arrangieren lässt. Die meisten meiner Fahrgäste aber scheinen das Riechen vollkommen verlernt zu haben. Ich meine damit nicht einmal die vollkommen absurde Szenerie, wenn Sie einen Sitzplatz eingenommen und erst dann bemerkt haben, dass neben Ihnen auf dem Fussboden das haltverdaute Döner des Fahrgastes von der letzten Runde vor sich hin stinkt (Sie bleiben meistens so lange sitzen, bis es einfach nicht mehr geht und das kann sehr lange gehen…). Ich meine damit noch nicht einmal den höchst intensiven Körpergeruch von vor allem von männlichen Fahrgästen, die die gesellschaftlich vertretbare Tragdauer von Textilien ohne Waschen auf bis zu mehrere Wochen ausgedehnt haben (bei 100 Prozent Polyester-Anteil in den Gewebsfasern!). Ich meine damit auch nicht das im Übermass aufgetragene neue Parfüm irgendeines «Duftdesigners» aus Fernost mit höchst exotisch anmutendem (aber de facto vollkommen banalem) Namen – dagegen kommt noch nicht einmal die Luftumwälzungsanlage bei uns «da vorne» im Führerstand an. Ich meine damit die Gerüche Zürichs!

Probieren Sie mal folgendes aus: setzen Sie sich in einen Bus oder ein Tram der VBZ, schliessen Sie die Augen und blockieren Sie Ihren Hörsinn irgendwie (blockieren, nicht mit Musik überdecken!). Stellen Sie vorab sicher, dass es sich nicht um ein Fahrzeug mit Klimaanlage, sondern eines mit den guten alten mechanisch zu öffnenden Fenstern handelt. Fahren Sie einfach mit und versuchen Sie zu ergründen, wo Sie sich gerade in Zürich befinden.

«Sie könnten riechen, dass der Landwirt an der ETH Hönggerberg entweder gerade seine Wiesen gemäht oder aber Dung ausgebracht hat.»

Sie könnten riechen, dass der Landwirt an der «ETH Hönggerberg» entweder gerade seine Wiesen gemäht oder aber Dung ausgebracht hat. Sie könnten riechen, dass der Getreidesilo am «Escher-Wyss-Platz» gerade eine Lieferung Getreide erhalten hat. Sie könnten am «Bürkliplatz» oder der «Rentenanstalt» riechen, dass Lindt am Seeufer hinter Wollishofen die Osterhasen mit der goldenen Glocke herstellt. Sie könnten riechen, dass das Restaurant am «Letzigrund» wieder seine Holzöfen angefeuert hat. Bei der «Kalkbreite/Bahnhof Wiedikon» riechen die Gleisanlagen der SBB, wie nun einmal Gleisanlagen riechen. Den «Paradeplatz» können Sie unschwer überreichen, derart viele mehr oder minder wohl riechende Düfte tragen hier immer einen epischen Weltkrieg aus! Man kann am «Berninaplatz» riechen, wann der türkische Laden seine Sesam-Kringel gebacken hat. Freitags riecht es am «Helvetiaplatz» manchmal nach den feinen Käse-Sorten, die ein mir bestens bekannter Lieferant dort auf dem Markt anbietet. Ab und an kann man in der «Bahnhofstrasse» riechen, dass die grosse Firma aus Cupertino, USA wieder ein neues, mehr oder minder sinnvolles Produkt zu einem recht überrissenen Kaufpreis auf den Markt gebracht hat, dann riecht es dort nach «Apple» (und nein, das ist kein Scherz, bei «Apple» arbeiten Menschen, die den Duft eines neuen Produktes und dessen Verpackung «designen»!). Sie könnten riechen, ob Sie im Tram-Tunnel stadteinwärts oder stadtauswärts fahren (zumindest im Frühling und Herbst). Sie könnten in Höhe «Tüffenwies» oder «Grünaustrasse» riechen, dass Sie sich den grossen Kläranlagen Zürichs nähern. Im «Triemli» könnten Sie riechen, ob die Anästhesie-Schwestern des angrenzenden Spitals Schichtbeginn oder Schichtende haben. Sie könnten in «Hirzenbach» riechen, ob der türkische oder der schweizer Gartenbesitzer gerade grilliert (und ob das VBZ-WC jüngst gereinigt wurde oder nicht). Wussten Sie, dass man am «Waidfussweg» manchmal riechen kann, ob es im Altersheim Sydefädeli gerade Suppe, Bohnen, Fisch, Fleisch oder Kartoffeln (ja ja, «Äärdöpfel», schon klar) zum Mittag gibt? Sie könnten sogar riechen, dass morgen oder übermorgen der erste Schnee fallen wird oder aber die Sonne endlich über den Winter gesiegt hat. Sie könnten riechen, dass die Temperaturen des Sommers sogar den grossen Züri-See zum biologischen Umkippen gebracht haben. Sie könnten sogar riechen, ob Wochenende oder Wochentag ist!

Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Sie jemand für verrückt erklärt, weil Sie nur da sitzen, sich bei geschlossenen Augen die Ohren zu halten und bewusst ein- und ausatmen. Die meisten Menschen um Sie herum starren ohnehin nur auf ein Display ohne zu riechen, wie schön Zürich allein durch die Nase wahr genommen sein kann. Wenn Sie Zürich gerochen haben, dann nehmen Sie mal Ihren Hörsinn dazu. Und wenn Sie das gemacht haben, erst dann benutzen Sie auch Ihre Augen. Erst dann wird Ihnen vielleicht wieder auffallen, in was für einer schönen und im wahrsten Sinne des Wortes sinnlichen Stadt Sie sich gerade aufhalten.

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