Stationen der Flucht: Ein Innehalten

Erstmals kommt in Zürich eine Theaterproduktion an sechs verschiedenen Stationen während eines Abends zur Aufführung. «Die Schutzbefohlenen» von Elfriede Jelinek erlaubt eine künstlerische Diversität mit ein- und dem selben Anliegen: Menschen auf der Flucht eine Stimme zu geben.

Wir werden geflutet von Bildern. Bilder berühren uns, stossen uns auch ab, regen zum Nachdenken an. Einige zeigen den unermesslichen Schrecken dessen, was schwer begreifbar ist. Auch mit Worten lassen sich Bilder malen, und genau das tut Elfriede Jelinek. Sie webt die mittlerweile unsäglich vertrauten Bilder des Grauens, jene von Flüchtlingen auf ihrer Odyssee durch Europa, in Worte. «Sprachbilder», sagt Daniel Kuschewski, Regisseur im Jungen Schauspielhaus, «eine kunstvolle Sprache, die man sich erst erschliessen muss». Diese Bilder verzichten auf jeglichen Voyeurismus, denn es sind unsere eigenen, die Jelinek in unseren Gedanken entstehen lässt.

«Da könnte jemand eher das All bei sich aufnehmen als alles, als uns, nichts und niemand nimmt uns auf, das ist unerhört! Und unerhört bleiben auch wir.»

«Macht man sich schuldig an der Sache, wenn man die Flüchtlingsthematik zum Theaterabend umgestaltet?». Dieser Frage hatten sich die Theaterschaffenden zu stellen, bevor sie sich an die Inszenierung der «Schutzbefohlenen» wagten. «Die Schutzbefohlenen», so heisst das Werk von Elfriede Jelinek, welches seit 2012 parallel zum Schrecken der Flüchtlingskrise an Umfang gewinnt. Dieses wird derzeit in sechs Häusern der Zürcher Theaterlandschaft zu einem Kaleidoskop unterschiedlicher Interpretationen arrangiert und am 21. Mai zur Aufführung gebracht. Ursprünglich war die Intention, der Bühnenwelt zu einem Erlebnisabend analog der «Langen Nacht der Museen» zu verhelfen. Wo eine Geschichte erzählt wird, besteht aber eine Chronologie. Nicht so bei den «Schutzbefohlenen». Die non-lineare Gedankenwelt der Jelinek erlaubt es, verschiedene Passagen des Werks als musikalische Interpretierung, als alphabetische Anordnung oder gar als Übersetzungsprojekt zu präsentieren. In das Projekt involviert sind nebst dem Schauspielhaus und dem Jungen Schauspielhaus die Gessnerallee, die Rote Fabrik sowie die beiden Theater Neumarkt und Winkelwiese. Die Zusammenarbeit der Häuser an einem derartigen Projekt ist ein Novum und brachte einen bereichernden Austausch mit sich. Anregend auch für die Gäste – diese erfahren das Stück nun also in einer Art Parcours quer durch die Stadt: Auf einer Fährte, die erlaubt, in den Kosmos des Themas einzusteigen. Der Weg zwischen den einzelnen Stationen bietet Gelegenheit, die rund 20 bis 30 Minuten langen Stücke immer wieder zu reflektieren, setzen zu lassen und zu diskutieren.

«Zerbrechen können sie nicht, das Wasser nimmt sie auf, es nimmt die Menschen in den Schnabel, nein, Schnabel kann man nicht sagen, so wie man zittern nicht sagen kann, bitte, kann mir jemand neue Wörter hereinreichen, vielen Dank, Wörter marschieren, auch hier sind welche aufgeschrieben, die Küche ist eröffnet, nur zu essen gibt es nichts, nein, zu trinken auch nicht, ist Ihnen das denn nicht genug Wasser hier, wollen Sie etwa noch mehr?»

Losfahren – Überfahrt – Ankommen

«Kein Vater, keine Mutter, du allein, zu anderen Menschen, in ein fremdes Haus». Dieser Satz spielte eine zentrale Rolle für das Junge Schauspielhaus, das sich dem Thema des Abschieds von der Heimat, der Brutalität der Überfahrt und dem Ankommen an unbekannten Gestaden widmet und dabei seinen Blick auf die unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge konzentriert. Dann nämlich, wenn der Tod nicht weiter das Boot umspült und der Fuss das Land berührt, kann erst gewagt werden, Visionen einer Zukunft zu entwickeln. Viel Verantwortung schwimmt mit, denn diese Jugendlichen lösen die Hoffnungen ihrer gesamten Familie ein: «Wir wollen, dass du stellvertretend für uns alle überlebst». Am neuen Ort möchten sie ihr Versprechen einlösen, die Ärmel hochkrempeln und neu starten, aber vorher gilt es einiges zu erfüllen: Das Erlernen der deutschen Sprache zum Beispiel. Das erzeugt Spannung. Auch eine innere Spannung beim Leser: «Der Text Jelineks entzieht sich eines Urteils, bleibt aber gleichzeitig oft zynisch. Man liest den Text, muss lachen, beisst sich auf die Zunge und fragt sich: ‹Wie gehe ich eigentlich mit dem Thema um?›», sinniert Kuschewski. Und um gleichzeitig auch die eingangs gestellte Frage nach der Schuldigkeit zu beantworten: Freilich verzichtet das Junge Schauspielhaus darauf, Schauspieler als Flüchtlinge zu verkleiden. Ebenso sehr wie auf die Anmassung, zu wissen, wie es im Inneren dieser Menschen aussieht. Die Sicht ist immer eine von aussen, die Umsetzung subtil.

«Dies Zeugnis, dieses unterschriebene Zeugnis befiehlt uns eine Rückkehr, ins umnebelte Land, aus dem wir kamen, wo waren Sie zuletzt? Dort müssen Sie Ihren Antrag stellen! Das ist es, was ihr für uns wollt, immerhin wollt ihr was!»

Die Frage, ob es denn überhaupt erwünscht sei, eine Theaterproduktion diesem bedrückenden Thema zu widmen, haben die OrganisatorInnen denn auch mit Experten besprochen. Will heissen, mit jenen Menschen, die sich schon länger mit der Flüchtlingsthematik beschäftigen: Dem Solinetz beispielsweise oder – im Rahmen des Übersetzungsprojekts in der Winkelwiese und des Deutschkurses in der Gessnerallee – mit der Autonomen Schule.

So manch eine Irrfahrt nimmt ein hoffnungsvolles Ende. So eines, wie in der Geschichte von VBZ-Mitarbeiter Abdul Aziz Omidi , der mit der ganzen Brutalität der Realität am eigenen Leibe erlebt, was den Zuschauer im Theatersaal bloss emotional touchiert… Was bleibt, ist die Ohnmacht einer Erinnerung, die nie vergessen geht. Und bei all jenen, die zuschauen, auch nicht vergessen gehen soll. Dazu leistet die künstlerische Umsetzung der «Schutzbefohlenen» ihren Beitrag.

Sechs Stationen zu Flucht und Grenzen: «Die Schutzbefohlenen»

Ein gemeinsames Projekt von Gessnerallee Zürich, Junges Schauspielhaus Zürich, Rote Fabrik, Schauspielhaus Zürich, Theater Neumarkt, Theater Winkelwiese, in Zusammenarbeit mit dem Opernhaus Zürich.Samstag, 21. Mai 2016, jeweils um 17.00/18.15/19.30/20.45 Uhr. Die Produktion kann als ganze (mit sechs Stationen) oder halbe Route (mit drei Stationen) besucht werden. Zusätzlich gibt es Einzeleintritte an den verschieden Spielorten. Alle Routen beginnen im Pfauen und enden in der Roten Fabrik. Treffpunkt für Instruktion und Routenzuteilung ist jeweils 30 Minuten vor Routenbeginn im Pfauenfoyer.Das detaillierte Programm finden Sie auf schutzbefohlene.ch.UnterwegsDie Wege zwischen Schauspielhaus (Pfauen und Kammer), Theater Winkelwiese und Theater Neumarkt können zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt werden.Zwischen Schauspielhaus (Haltestelle Kunsthaus) und der Gessnerallee (Haltestelle Löwenplatz) sowie zwischen Theater Neumarkt (Haltestelle Neumarkt) und Gessnerallee können die Buslinie 31 oder die Tramlinie 3 genutzt werden. Alle Tickets beinhalten eine Tageskarte der VBZ für Zone 110.Zwischen Schauspielhaus (Bushaltestelle Kunsthaus, Richtung Hegibachplatz) und der Roten Fabrik sowie zwischen Gessnerallee und der Roten Fabrik sind Shuttlebusse im Einsatz. Letzte Rückfahrt ab Rote Fabrik 02:15 Uhr. Danach stehen die regulären Nachtbusse zur Verfügung (bitte vergessen Sie nicht, einen Nachtzuschlag zu lösen).

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