Da wo ich aufwuchs, hatte man ein Auto (oder zwei oder drei). Wir hatten keins. Auch keinen Fernseher. Sonst waren wir recht normal. Doch das genügte mir damals, um uns als Exoten zu sehen. Als Kind definiert man sich selber nach ganz eigenen Regeln – nach meinen war das Keinautohaben falsch, weil es eben nicht der Norm entsprach. Wo immer möglich versuchte ich, die fehlenden «Statussymbole» zu verheimlichen.
Obwohl wir kein Auto besassen, nutzen wir ab und zu eins. Mobility war damals am aufkommen – doch in meinen Kinderaugen peinlich. Ich schämte mich, wenn wir im Mobility-Auto unterwegs waren. Wieso mussten die auch so auffällig rot sein, dass man sie von Weitem erkannte? So setzte ich mich jeweils in die Mitte der Rückbank und versteckte mich hinter meinen Geschwistern, bis wir aus dem Dorf raus waren.
Wieso mussten die auch so auffällig rot sein, dass man sie von Weitem erkannte?
In die Ferien fuhren wir mit dem Zug. Mit den Koffern ging es zu Fuss zum Bahnhof – für mich ein Gräuel. Meist waren wir so früh vor Ort, dass gefühlte Stunden blieben, um ungewollt Bekannten über den Weg zu laufen. «Wohin geht’s?», «Ach, ist das nicht mühsam, so eine weite Reise mit dem Zug?». Wobei Letzteres zusammen mit einem mitleidigen Kopfschütteln sicher nur in meinen Gedanken geäussert wurde. Für die Klassenlager schlich ich mich mit meinem Gepäck von hinten zum Schulhaus, verbot meinen Eltern, es mit dem Veloanhänger zu bringen.
In Zürich, wo ich heute wohne, hat man kein Auto, zumindest trifft das auf fast 50 Prozent der Haushalte zu. Ich habe noch immer keins. Freiwillig. Und mit einem gewissen Stolz. Durch einige Jahre Abstand und einer stattlichen Portion Reife habe ich begriffen, dass mich die geteilte Mobilität (und natürlich auch allgemein die erfrischende Bescheidenheit meiner Eltern) auf eine sehr positive Art sozialisiert hat. Teilen bedeutet Abstimmung und Koordination. Ich lernte, mich selbständig zu organisieren, Rücksicht zu nehmen. Teilen bedeutet aber auch: Berührungspunkte mit anderen Menschen zu haben, Begegnungen zuzulassen, Beobachtungen zu machen. Wenn wir mit dem Zug in die Ferien fuhren, war das zwar anstrengender als die Fahrt mit einer Familienkutsche. Es war aber auch bereichernd, denn wir hatten Zeit füreinander, für Gespräche und Spiele. In meiner Erinnerung lernte ich das Jassen im Zug. Ich wettete bei jeder Zugfahrt mit meinem Vater um einen Fünfräppler, ob wir bei einer bestimmten Haltestelle hielten oder sie ausliessen. Ganz stolz war ich, wenn er falsch lag (ich rede mir heute noch ein, dass er mich sicher nicht extra gewinnen liess). Besonders in Erinnerung blieben mir die Fahrten ins Ausland – mit dem Nachtzug nach Barcelona, was für ein Erlebnis! Durch die Vorhänge beobachtete ich von meiner Pritsche aus stundenlang die vorbeiziehende nächtliche Landschaft und die Leute auf den Perrons bei den vereinzelten Stopps.
Das, was uns damals in meinen Augen zu Exoten stempelte, liegt heute im Trend. Es ist nicht mehr der Besitz, der unseren Status prägt, sondern der Zugang und die Vernetzung, die uns neue Freiheiten verschaffen (wobei ich zu behaupten wage, dass dies ein eher urbaner Trend ist). Damit bin ich von der gefühlten Exotin ungewollt zu einem Teil einer angesagten Bewegung, also quasi zum «Mainstream» geworden. Denn genau das passiert damit, es wird, weil trendig, «kommerzialisiert». Welch wohltuende Erkenntnis inmitten all der profitgeschwängerten Überlegungen, dass für meine Eltern das Teilen kein Trend war oder ist, sondern zu ihrer Lebenseinstellung gehört; dass Status, egal ob über Besitz oder Vernetzung, nie eine Bedeutung hatte.
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