Die neue Limmattalbahn und ein besseres Busangebot: Per 11. Dezember 2022 bewegt sich einiges im Limmattal. Auf diesen Anlass hin stellen wir in einer Mini-Serie Persönlichkeiten vor, die im Limmattal ebenfalls etwas bewegen. Heute: Der Unterengstringer Böögg und sein Meister, Ralph Pfister.
Ohne jeden Zweifel kennen Sie den Böögg, der alljährlich (wenn er nicht gerade in der Teufelsschlucht steckt) mit viel Brimborium auf dem Zürcher Sechseläutenplatz in die Luft geht. Kennen Sie aber auch seinen Bruder, der an den Gestaden der Limmat entflammt? Ja? Dann sind Sie vielleicht eine Unterengstringerin oder ein Unterengstringer. Dort liegt nämlich die Heimat des «Mittefasten»-Bööggs. Wir haben mit dem feurigen Gesellen und seinem Meister Ralph Pfister gesprochen. Ersteres mögen Sie vielleicht merkwürdig finden, aber Sie glauben ja wohl auch, dass der Zürcher Böögg das Sommerwetter vorhersagt, nicht?
Zunächst einmal legt der Unterengstringer Böögg Wert auf die Feststellung, dass er – notabene! – der ältere Bruder sei: Das «Mittefasten» existiere nämlich mindestens seit dem 16. Jahrhundert. Auch Pfister bestätigt, es handle sich bei der Jahreszahl von 1542 lediglich um den ersten schriftlichen Nachweis – der Brauch reiche wohl tiefer in die Vergangenheit zurück.
Vom Rapper bis zur Diva: Der Böögg hat viele Gesichter
Für sein Alter kommt der Limmattaler Frühlingsbote ausgesprochen jugendlich daher. Diese Ausstrahlung verdankt er vor allem dem Umstand, dass es die Unterengstringer Sechstklässler sind, die seinen wichtigsten Körperteil überhaupt – den Kopf – gestalten und fertigen, während der Bau von Rumpf und Extremitäten dem Bööggmeister überlassen bleibt. Über diesen Kopf wird in einem alljährlichen Zeichnungswettbewerb demokratisch abgestimmt, ehe er in der Handarbeitsstunde auf einen 80 Zentimeter grossen Ballon aufgekleistert wird.
Der «Mittefasten-Böögg» hat viele Gesichter, jedes Jahr ein anderes – bisweilen gar zwei oder drei gleichzeitig. «Es geht um den Rundumblick», erklärt der Böögg, «uns Unterengstringern entgeht nichts.» In Wahrheit liege es daran, dass Unterengstringen stark wachse, korrigiert Pfister: «In manchen Jahren hatten wir zwei bis drei sechste Klassen – und jede davon darf ein Gesicht gestalten».
«Letztes Jahr haben sie mir einen sehr femininen Look verpasst», stöhnt der Böögg und würde wohl mit den Augen rollen, wenn er sie denn schon hätte. Heuer nämlich war er eher eine Bööggin, dem Namen nach gar eine «Crazy Diva». «Trotzdem ist der Böögg weder männlich noch weiblich», beruhigt Pfister, es sei ein Wesen und mithin kein Mensch, «andernfalls wäre es auch etwas merkwürdig, mich ins Feuer zu stellen», wirft der Betroffene ein und will noch gesagt haben, er sei – im Fall! – auch kein Schneemann.
Der Meister in der Mittefastenkommission erfüllt eine Lebensaufgabe
Bereits seit dem Jahr 2015 ist Pfister, schon seit Kindesbeinen ein Unterengstringer mit Leib und Seele, im Amt: Zuvor wurde er in einer zweijährigen Lehre auf Herz und Nieren geprüft. Die Regeln in der Mittefastenkommission sind streng. Es wird nicht gefehlt, und wer zu spät kommt oder seine Plakette nicht auf sich trägt, äufnet mit einer Busse die Kommissionskasse. Die Aufgabe kann auch nicht wie ein Mantel abgelegt werden, sie ist die treuste aller Begleiterinnen: «Wer einmal Meister ist, bleibt dies auf Lebenszeit, er wechselt höchstens den Status auf ‹Altmeister›», sagt der Vater zweier erwachsener Kinder. Der 50-jährige, der hauptberuflich bis vor kurzem Brunnenmeister in Unterengstringen war und jetzt das selbe Amt «ännet» der Limmat in Schlieren bekleidet, ist einer von insgesamt elf Meistern, darunter ein Schiffli-, ein Pulver- und ein Feuerwerksmeister – um nur drei davon zu nennen.
Das urtümliche Spiel mit dem Feuer
So modern der Hauptprotagonist auch aussehen mag, so urtümlich ist das «Mittefasten» selbst. Die ehedem heidnischen Wurzeln offenbaren sich in der Naturnähe des Brauchs, dem Spiel mit den Elementen. Es geht darum, die bösen Geister mit Lärm zu vertreiben, und so beginnt der «Mittefasten»-Sonntag mit einem höllischen Krach, morgens um 6 Uhr. Die Sechstklässler zünden Böller – unter Aufsicht des Pulvermeisters freilich – sechs insgesamt, jede Viertelstunde eine, «bis das ganze Limmattal wach ist und weiss, jetzt geht’s los», frohlockt der Unterengstringer «Phoenix».
Längst orientiert sich der Anlass natürlich am Christentum. «Der Papst ruft jeweils in Unterengstringen an und fragt, wann dieses Jahr Ostern stattfinden soll», behauptet der Böögg keck. Tatsächlich finde das Fest jeweils exakt drei Wochen vor Ostern statt, bekräftigt Pfister.
Teil des atmosphärischen Brauchs ist das «Lichterschwemmen», bei dem ein brennendes Schiffchen zu Wasser gelassen wird, um die Limmat zufrieden zu stimmen. In Unterengstringen ist es nicht der Böögg, sondern der Verlauf dieser Schifffahrt, die bestimmt, wie der Sommer wird. Feuer ist ein tragendes Element des «Mittefastens». Manchmal lodert es etwas stärker als geplant. «Früher gab es einen Kienbesen-Umzug durchs Dorf», erzählt Pfister. Nachdem 1867 eine Reihe Häuser im Dorfkern abgebrannt sei, habe man diese Umzüge bei Strafe verboten. Seit da würden die harzgetränkten Föhren-Hölzer – eben das «Kienholz» – ans Ufer der Limmat gestellt, zwölf an der Zahl, für jeden Monat einen, so der Meister. «Jedenfalls», ruft der Böögg dazwischen, «hätte man vielleicht einen Brandsegen aussprechen müssen.» Die Mystik des «Mittefastens» geht nämlich so weit, dass ehedem noch bis ins 19. Jahrhundert Zaubersprüche zur Anwendung kamen, beispielsweise der Brandsegen, der so lautet:
«Gott ging über Land und schaute an den starken starken Brand.
Gott streckte aus seyne rechte Hand und löste den starken, starken Brand.»
So lebensfroh das Dorffest, so atmosphärisch der Hauptakt
Das Unterengstringer «Mittefasten» ist, wie der Name sagt, die Mitte der 40-tägigen Fastenzeit – und ein eigentliches Dorffest. Schon zwei Wochen vorher treffen sich die Unterengstringer Bürger – früher waren es die Knaben – zum Holzsammeln. Zum Fest gehört auch die feierliche Aufnahme neu eingebürgerter Unterengstringerinnen und Unterengstringer am «Mittefasten»-Samstag, beim «Chüelibrünneli» im Wald: Eine freudvolle Angelegenheit, es gibt Bratwurst, Tranksame und eine offizielle Urkunde für die Eingebürgerten. Während des gesamten Wochenendes gehört Musik und Tanz für alle Altersgruppen, ein Schiessstand, Comedy und gar ein Fussballturnier traditionell zum Fest.
Seinen Höhepunkt aber nimmt der Anlass am Sonntag bei Einbruch der Dunkelheit, wenn die Lichter von Kienbesen und Holzschiffchen die beginnende Nacht erhellen und der Böögg auf seinem sechs Meter grossen Holzstoss unter einem Feuerwerksregen allmählich in Flammen aufgeht. Anders als sein explosives Stadtzürcher Pendant geht der «Mittefasten-Böögg» nicht in die Luft, heizt man ihm auch noch so ein. Er entzündet sich langsam, regelrecht besonnen. Damit taugt er nicht nur zum Symbol für das Ende des Winters, sondern irgendwie ja auch zum Vorbild.
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